12. Jahreskongress Wissenschaft Praxis in Bochum
Am 22. und 23. Oktober 2016 veranstalteten die Psychotherapeutenkammer NRW und der Hochschulverbund NRW in Bochum den 12. Jahreskongress Wissenschaft Praxis. „Mehr als die Summe der Teile: Körper und Psychotherapie" lautete das diesjährige Kongressthema, zu dem 47 Workshops zur psychotherapeutischen Arbeit bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen stattfanden. Mit 360 niedergelassenen und angestellten Psychologischen Psychotherapeut/innen und Kinder- und Jugendlichentherapeut/innen sowie ärztlichen Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich Psychotherapie war die Fachtagung bereits im Vorfeld ausgebucht.
Entwicklung der Psychosomatik
Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, erinnerte in seiner Begrüßung daran, dass die systematische Behandlung körperlicher Erkrankungen durch die Beeinflussung der Psyche vermutlich eine längere Geschichte habe als die systematische Behandlung durch die direkte Beeinflussung des Körpers. Im 19. und 20. Jahrhundert habe es diese Tradition im Zuge der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin jedoch zunehmend in die Außenbezirke der sich entwickelnden Profession gedrängt. Heute würden sich beide Entwicklungslinien zunehmend (mehr) annähern und statt eines Anspruchs der Psychosomatik auf einen Bereich exquisit psychogener Erkrankungen gäbe es nur noch bio-psycho-soziale Ätiologien. „Das bio-psycho-soziale Modell umfasst dabei, dass psychische Faktoren an der Krankheitsentstehung beteiligt sein können, eine Folge der körperlichen Erkrankung sein können und deren Verlauf beeinflussen können“, fasste Gerd Höhner zusammen.
Teil der evidenzbasierten Versorgung
Inzwischen könnten intensive psychosomatische und somatopsychische Wechselwirkungen bei zahlreichen körperlichen Erkrankungen belegt werden und pychosomatisch-psychotherapeutische Interventionen würden in zahlreichen Bereichen zur evidenzbasierten Versorgung gehören, so z. B. in Kardiologie, Diabetologie, Onkologie und Schmerztherapie. Und so, wie inzwischen davon auszugehen sei, dass alle Krankheiten psychisch beeinflusst werden, sei umgekehrt davon auszugehen, dass alle Krankheiten und insbesondere chronische körperliche Erkrankungen als psychisch belastend erlebt werden. „Diese psychische Komorbidität ist bereits für sich genommen behandlungsbedürftig, auch wenn die Prognose der körperlichen Grunderkrankung dadurch nicht verbessert werden sollte“, betonte Gerd Höhner.
Hoher Bedarf an psychotherapeutischen Leistungen
Für die häufigsten schweren körperlichen Erkrankungen, für Organ-Transplantationen und die Palliativ-Versorgung gäbe es inzwischen spezifische Konzepte für eine psychotherapeutische Mitbehandlung, informierte der Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW. „Der Bedarf wird auch zunehmend an unsere Profession herangetragen“, so Gerd Höhner. „Das ist eine erhebliche Aufwertung der psychotherapeutischen Berufe und ein enormes Entwicklungspotenzial. Wir sollten uns aufmachen, den damit verbundenen Anforderungen gerecht zu werden. Dazu gehört auch, geregelte Weiterbildungsgänge zu entwickeln. Das werden wir angehen, in Nordrhein-Westfalen und auf Bundesebene.“
Erklärungen für das medizinisch Unerklärte
Prof. Dr. Michael Witthöft von der Universität Mainz, Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Experimentelle Psychopathologie, ging in seinem Vortrag auf die Suche nach Erklärungen für das medizinisch Unerklärte und führte in Modelle und Mechanismen chronischer somatischer Beschwerden ein.
Auf der Suche nach Erklärungen, wie chronische Körperbeschwerden „funktionieren“, stellte der klinische Psychologe verschiedene Modelle zur Struktur des körperlichen Beschwerdeerlebens vor. Er hob hervor, dass neben allgemeinen auch individuelle Faktoren eine Rolle spielen können, beispielsweise wie jemand sozialisiert ist oder wie er auf Umweltreize reagiert. Mit Blick auf die Mechanismen zeigte der Referent auf, wie eine klassische Konditionierung oder eine weniger akkurate Interozeption zu Beschwerdeauslösern werden können. Zudem können negativer Affekt und chronische körperliche Beschwerden korrelieren. Ebenso könne eine negative Erwartungshaltung Symptome auslösen oder verstärken.
Als therapeutische Implikationen nannte Prof. Dr. Michael Witthöft unter anderem die Konditionierung der Interozeption, den Abbau von Sicherheits- und Vermeidungsverhalten, eine systematische Desensibilisierung, Maßnahmen zur Stressreduktion, Reattribution und Psychoedukation.
Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen
Über chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen sprach Prof. Dr. Tanja Hechler, Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Trier. Sie betonte, dass chronische Schmerzen als ein bio-psycho-soziales Syndrom bei Kindern häufig vorkommen würden. Etwa 20 bis 30 Prozent der jungen Patienten seien gleichzeitig emotional stark belastet oder komorbid psychisch erkrankt.
Des Weiteren erläuterte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, wie Lernprozesse das gleichzeitige Auftreten von Angst und Schmerzen erklären könnten und die Angst vermutlich auch über eine interozeptive Angstkonditionierung erworben werden könne. Entsprechend würden psychologische Interventionen in der Behandlung eine zentrale Rolle spielen.
Unterversorgung bei Kindern und Jugendlichen
Aktuell sei jedoch eine Unterversorgung der Kinder und Jugendlichen zu beklagen. Es dauere im Schnitt mit über zwei Jahren deutlich zu lange, bis sie in Behandlung kämen, hielt Prof. Dr. Tanja Hechler fest. Zudem würden nur 40 Prozent eine Empfehlung für eine ambulante Psychotherapie erhalten – und davon wiederum nur die Hälfte eine Therapie umsetzen. Für eine bessere psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen bräuchte es unter anderem mehr Lehrangebote an den Universitäten, eine verstärkte psychologische Forschung zu Ätiologie, Diagnostik und Interventionen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien sowie mehr Weiterbildungsangebote.
Psychotherapeutische Ansätze bei chronischer Krankheit
Über die Psychotherapie psychischer Störungen bei körperlich chronisch kranken Menschen am Beispiel des Diabetes mellitus referierte Prof. Dr. med. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum.
Er führte aus, dass bei Essstörungen und Diabetes Psychotherapie, Pharmakotherapie, Gewichtsreduktion, Selbsthilfe und Kombinationstherapien wenig Einfluss zeigen würden. Ein häufig mit Diabetes verbundenes Beschwerdebild sei die Depression. In einer Studie besserten sowohl Pharmakologie als auch Psychotherapie die psychische Komorbidität. Allerdings blieb der erhoffte positive Einfluss auf den Stoffwechsel aus. Dies sei im Zusammenhang damit zu sehen, dass nicht alle Studienteilnehmer Psychopharmaka oder Verhaltenstherapie auch angenommen hatten, folgerte Prof. Dr. Stephan Herpertz. Der Faktor Adhärenz sei somit stärker als bislang zu berücksichtigen.
Die Akzeptanz der Erkrankung verbessern
Abschließend stellte der Facharzt für Innere Medizin und Psychotherapeutische Medizin Wege vor, wie Patienten zu einer besseren Akzeptanz ihres Diabetes gelangen könnten. Als wirksames Instrument hob er den Lebenskompass hervor. Dieses Schaubild weist um den im Zentrum stehenden Menschen wichtige Bereiche wie Familie, Arbeit oder Gesundheit aus. Im Gespräch mit den Patienten über ihre mit den jeweiligen Bereichen verbundenen Wünsche könnten mögliche Diskrepanzen zur Realität und Barrieren erkannt und damit konkrete Behandlungsansätze für eine bessere Akzeptanz des Diabetes gefunden werden.