14. Jahreskongress Wissenschaft Praxis in Bochum - „out of the box“ bei der psychotherapeutischen Behandlung von schweren psychischen Störungen
Bereits zum 14. Mal veranstalteten die Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) und der Hochschulverbund NRW am 13. und 14. Oktober 2018 den Kongress „Wissenschaft Praxis“, in diesem Jahr zu dem Thema „Schwere psychische Störungen – Herausforderungen in der Praxis“. Die Hauptvorträge am Eröffnungsvormittag und die insgesamt 43 Workshops fanden bei den fast 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sehr großes Interesse.
Prof. Silvia Schneider von der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum eröffnete den Kongress im Namen des Hochschulverbundes. Sie wies darauf hin, wie bedeutsam auch der Einbezug des sozialen Umfeldes, eine sektorenübergreifende Versorgung, Ergänzungen des ambulanten Einzelsettings und letztlich die interdisziplinäre Zusammenarbeit der helfenden Akteure bei der psychotherapeutischen Versorgung seien – insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Störungen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer rief sie auf, den Kongress als Gelegenheit für den Blick „out of the box“ zu verstehen.
Gute psychotherapeutische Angebote
Gerd Höhner, Präsident der PTK NRW, ging in seiner Begrüßung der Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer unter anderem darauf ein, dass berufspolitische Initiativen notwendig seien, um Reglementierungsbemühungen abzuwehren, die einer solchen Perspektivenerweiterung entgegenstünden. Dabei würden sich beispielsweise in der aktuellen Diskussion über eine gestufte und gesteuerte psychotherapeutische Versorgung alte Vorurteile widerspiegeln, für die es „heute ebenso wenige Argumente gibt wie vor 20 Jahren“, betonte Gerd Höhner. Unabhängige Gutachten und Befragungen hätten gezeigt, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei der Auswahl ihrer Patientinnen und Patienten nicht nach der Schwere der Störung selektieren würden und man von ärztlicher Seite „nicht auf sie aufpassen müsse“. Außerdem könne nicht bestritten werden, dass die psychotherapeutische Versorgung ungenügend sei, vor allem im Ruhrgebiet – mit gravierenden Auswirkungen für behandlungsbedürftige Kinder, Jugendliche und Erwachsene. „Die Daten widerlegen langgepflegte Vorurteile gegenüber Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Der Bedarf an Psychotherapie ist hoch und die psychotherapeutischen Angebote sind sehr gut. Sie können stolz darauf sein, wie Sie die Aufgaben in der Versorgung bewältigen“, betonte der Präsident der PTK NRW.
Wunsch nach Flexibilität
In den anschließenden Plenumsvorträgen am Eröffnungsvormittag des Kongresses informierten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über erfolgreiche psychotherapeutische Ansätze zur Behandlung von Störungsbildern, die als schwer zu therapieren gelten. Durchgehend zeigte sich dabei, wie hinderlich sich bei der Entwicklung und Umsetzung von psychotherapeutischen Hilfen die fehlende Flexibilität struktureller Rahmenbedingungen erweist, etwa hinsichtlich Dauer, Kontingent und Frequenz von Sitzungen, Einbezug des sozialen Umfeldes oder Abrechnungsmodalitäten. Sowohl in den Vorträgen als auch im Plenum wurden wiederholt entsprechende Änderungen der Psychotherapie-Richtlinie gefordert, um Menschen mit schweren psychischen Störungen die adäquate Behandlung im notwendigen Umfang zukommen lassen zu können.
Autismus-Spektrum Störung
In dem ersten Vortrag berichtete Prof. Dr. Inge Kamp Becker von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Philipps Universität Marburg über die „Therapie der Autismus-Spektrum Störung“ und brachte dabei ihre langjährigen Erfahrungen als Leiterin der Marburger Spezialambulanz für dieses Krankheitsbild ein. Das Störungsbild der genetisch bedingten Hirnfunktionsstörung sei sehr komplex und fast immer durch Komorbiditäten gekennzeichnet. Die Differentialdiagnostik sei daher von entscheidender Bedeutung, damit zum Beispiel Ängste oder Zwänge adäquat psychotherapeutisch behandelt werden könnten. Das Vorurteil, Patientinnen und Patienten mit dieser Diagnose wären immer „kleine Einsteins“, sei zwar „chic, aber unbegründet“. Im öffentlichen Bewusstsein sei es zu einer Entstigmatisierung des Störungsbildes gekommen, die Autismus-Spektrum-Störung als „Modediagnose“ sei jedoch problematisch.
Wie Prof. Kamp Becker betonte, sei es notwendig, dass die Behandlung im Sinne eines Fallmanagements von Fachleuten begleitet würde, also von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit speziellen Kenntnissen. Bei Bedarf sei dabei selbstverständlich auch an eine ambulante psychotherapeutische Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Einbezug des sozialen Umfeldes zu denken. Eine möglichst frühe, intensive und alltagsnahe Psychotherapie nach valider Diagnosestellung habe einen positiven Einfluss auf die Prognose vieler Patientinnen und Patienten, wobei sehr heterogene Entwicklungsprofile zu beobachten seien. Wesentlich sei, das familiäre und soziale Umfeld einzubeziehen, verhaltenstherapeutische Interventionen zur Erweiterung internaler Modelle zu nutzen und Komorbiditäten zu berücksichtigen.
Borderline und Muttersein
Prof. Dr. Babette Renneberg von der Freien Universität Berlin ging in ihrem Vortrag „Borderline und Muttersein – wie kann das gelingen? Ein Gruppentraining“ auf die Herausforderungen ein, die Mütter mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung im Aufbau einer Bindung zu ihren Kindern und in der Erziehung haben. Sie führte aus, dass die Störung durch „stabile Instabilität“ gekennzeichnet sei, was den grundlegenden Bedürfnissen von Kindern nach Verlässlichkeit von Bezugspersonen widerspräche. Unter der hohen Motivation der Mütter mit Borderline-Störung, „alles richtig zu machen“, sei bei ihren Kindern die Wahrscheinlichkeit erhöht, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Um diese Entwicklung zu durchbrechen, sei die Berücksichtigung des gesamten „Systems“ unbedingt notwendig, in dem die Mütter leben.
Prof. Renneberg forderte die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer auf, bei ihren Behandlungen von Patienten und Patientinnen mit emotional instabiler Persönlichkeitsstörung explizit die Beziehung zu den Kindern zu thematisieren und zu bedenken, dass die Therapie der Eltern sozusagen eine „doppelte Belohnung“ ermögliche, wenn auch den Kinder geholfen werden könne. Erfolgreiche Ansatzpunkte dazu beschrieb sie mit Hinweis auf ein Gruppentraining für Mütter, dessen weiterer Einsatz in drei Zentren vom Bundeszentrum für Bildung und Forschung gefördert wird.
Pragmatische Psychotherapie
In dem dritten, den Vormittag beschließenden Vortrag widmete sich Prof. Dr. Georg Juckel vom LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität-Bochum den „Prinzipien pragmatischer Psychotherapie bei schweren psychischen Störungen – am Beispiel von Depressionen und Schizophrenie“. Auf der Basis einer „Haltung von Geduld und Sympathie“ beschrieb er 15 Prinzipien, die er als verdichtete klinische Erfahrung bezeichnete und für die Umsetzung bei Psychotherapie in der Psychiatrie empfahl. Exemplarisch erläuterte er bewährte Hilfen, mit denen die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut der Patientin oder dem Patienten eine „Außenperspektive“ vermitteln könnten, um ihm so aufzuzeigen, dass seine Störung „nicht alles“ sei. Oft sei die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut nicht nur ein „Lotse, sondern der Hafen“ für schwerstkranke Menschen in Psychiatrien. Es sei aus seiner Sicht unverzichtbar, dass diese Patientinnen und Patienten möglichst schon auf akutpsychiatrischen Stationen Zugang zu Psychotherapie bekämen und auch langfristig ambulant psychotherapeutisch versorgt würden, hielt Prof. Juckel fest.
Den Plenarvorträgen schloss sich ein inhaltlich breit gefächertes Angebot an Workshops an, das von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern intensiv zur Fortbildung genutzt wurde.