Bericht der 23. Kammerversammlung am 27. März 2009 in Dortmund
Psychotherapeutische Perspektiven im Wahljahr 2009
2009 ist ein Jahr zahlreicher Wahlen. Innerhalb von wenigen Wochen finden die Wahlen der Heilberufskammern, des Europaparlaments und des Bundestags statt. Das Votum der Wähler sei damit in einer Zeit gefragt, in der die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land noch nicht absehbar sind, stellte Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW, in ihrer einleitenden Rede zur 23. Kammerversammlung in Dortmund fest. „Klar ist aber schon jetzt: Die gesetzlichen Krankenversicherung wird erhebliche Einnahmeverluste haben, der Kostendruck wird schon deshalb zunehmen.“ Dieser Kostendruck werde die Verteilungskämpfe auch zwischen den Heilberufen verschärfen, wie bereits die Diskussionen um die Honorarreform 2009 zeigten. Konitzer kritisierte scharf die Strategien der deutschen Ärzteschaft, den ärztlichen Honorarschlamassel zu Lasten der Psychotherapeuten lösen zu wollen.
Massive Unterversorgung psychisch kranker Menschen
Da die psychischen und sozialen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise erst in den nächsten Monaten spürbar werden, werde es nicht so einfach mit psychotherapeutischen Forderungen Gehör zu finden, erklärte die Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW. Ingesamt bestehe eine massive Unterversorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland. Rund fünf Millionen Menschen brauchen jährlich dringend eine psychotherapeutische Behandlung. Für sie stehen aber im ambulanten Bereich nur gut eine Million psychotherapeutische Behandlungsplätze jährlich zur Verfügung. „Die Öffentlichkeit regt sich auf, wenn Ärzte überhaupt nur damit drohen, Wartelisten anzulegen“, monierte Konitzer. „Dass jeder Psychotherapeut eine Warteliste von vier bis fünf Monaten hat, gehört dagegen schon zu den versorgungspolitischen Selbstverständlichkeiten.“ Würde jeder Patient, der anfragt, auf die Warteliste gesetzt, wären in ländlichen Regionen schnell Wartezeiten auf einen psychotherapeutischen Behandlungsplatz von ein bis zwei Jahren die Regel. Über diese Unterversorgung rege sich aber keiner auf. „Auch psychisch Kranke haben ein Recht darauf, möglichst schnell behandelt zu werden“, forderte die NRW-Präsidentin. Die Bereitschaft der Politik, mehr Geld in die Krankenversorgung zu stecken, hätte durch die Ärzteproteste gegen die Honorarreform 2009 allerdings weiter abgenommen.
Zukunft der kassenärztlichen Vereinigungen
Die Ärzteschaft ist inzwischen so zerstritten, dass sie selbst in Teilen die kassenärztlichen Vereinigungen in Frage stellt. „Kann dies die Perspektive für die Versorgung psychisch kranker Menschen sein?“, fragte Monika Konitzer. „Wer sorgt denn dann in Zukunft noch dafür, dass jeder Patient einen Arzt oder Psychotherapeuten in seiner Nähe findet?“ Einer Krankenkasse gelinge dies doch nur, wenn sie flächendeckend überall die Mehrheit der Patienten versichert. „Wer würde denn überhaupt für die Psychotherapeuten mit solchen Krankenkassen-Oligopolen verhandeln?“ Die Psychotherapeutenkammern könnten und wollten dies nicht tun. Bisher waren Vergütungsfragen die Domäne der psychotherapeutischen Verbände. „Sollen die Verbände eine Art Psychotherapeuten-KV werden? Hätten wir dann soviel unterschiedliche Vertragspartner für die Krankenkassen wie wir Verbände haben?“
Wohnortnahe und qualitätsgesicherte Versorgung
Konitzer warnte davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Sie könne sich eine wohnortnahe und qualitätsgesicherte Versorgung nicht ohne die kassenärztlichen Vereinigungen vorstellen. Um sie als Garanten der Sicherstellung der Versorgung zu erhalten, müssten die kassenärztlichen Vereinigungen allerdings zukünftig ihre Kernaufgaben besser erledigen:
- „Es geht um die Sicherstellung der Versorgung somatisch und psychisch kranker Menschen.
- Die psychische Situation von Patienten muss in alle Überlegung zu Versorgungs- und Vertragsgestaltung und Qualitätsstandards einbezogen werden.
- Die Vergütung psychologischer und technischer Behandlungen muss bereits vom Ansatz her gleichwertig sein.“
Keine Individualbudgets für Psychotherapeuten
Eine Mengenbegrenzung psychotherapeutischer Leistungen im Sinne von Individualbudgets oder Regelleistungsvolumina, d.h. die Einschränkung genehmigungspflichtiger Leistungen bzw. die Rückkehr zur massiven Einschränkung diagnostischer Leistungen und Kriseninterventionen wie sie bis zum 31. Dezember 2008 der Fall war, sei „absurd und verantwortungslos“. „Wir können den Gemeinsamen Bewertungsausschuss nur warnen, diese von ihm am 27. Februar 2009 angekündigte Absicht in die Tat umzusetzen“, erklärte die Präsidentin der nordrhein-westfälischen Psychotherapeuten.
Kammer als Forum des Austauschs
Wer politisch Einfluss nehmen wolle, müsse allerdings auch wissen, was er wolle, welche gesundheitspolitischen Konzepte er anzubieten habe. Die Kammerversammlung sei dafür der ideale Ort, betonte Monika Konitzer. Hier sind alle Psychotherapeuten vertreten, unabhängig davon, ob sie Erwachsene oder Kinder und Jugendliche behandeln, ob sie niedergelassen oder in einer Beratungsstelle oder einem Krankenhaus arbeiten, auch unabhängig davon, welchen Berufs- oder Fachverband sie angehören und welchem Verfahren sie sich besonders verbunden fühlen. „Mit der Kammerversammlung haben wir ein Forum des Austausches, der Diskussion und der mehrheitlichen Entscheidung“, erklärte die NRW-Präsidentin. „Wir sollten diese Chance nutzen, hier grundlegende Entscheidungen langfristig vorzubereiten, wie wir dies bei der Diskussion um die Zukunft der Psychotherapeutenausbildung getan haben.“
Konitzer bedankte sich in dieser letzten Kammerversammlung der Legislaturperiode 2005 bis 2009 für das Engagement jedes Einzelnen in dieser Runde. In den vergangenen vier Jahren sei viel für das einstimmig verabschiedete Satzungsziel erreicht worden: für die Weiterentwicklung der Psychotherapie und die Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung. In der Debatte um die Zukunft der Psychotherapie könne es nicht genug Argumente und Perspektiven geben. Sie freue sich deshalb darauf, die offene und streitbare Debatte heute und in der neu gewählten Kammerversammlung fortsetzen zu können, von wo aus auch immer.
Entscheidungen der Kammerversammlung
Kinder und Jugendliche
Die Kammerversammlung forderte auf Antrag der Kooperativen Liste und des Bündnis KJP die Gremien der Selbstverwaltung auf, die 20-Prozent-Quote für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie „unverzüglich und ohne Einschränkungen umzusetzen“. Insbesondere forderte die Kammerversammlung, dass für die Berechnung der Quote nur die Psychotherapeuten gezählt werden, die ausschließlich Kinder und Jugendliche behandeln, deren Leistungen auf diesem Gebiet also einen Anteil von 90 Prozent an den Gesamtleistungen erreichen. Darüber hinaus sei die derzeitige Bedarfsplanung grundlegend zu überarbeiten. Ländliche Regionen, aber auch das Ruhrgebiet werden durch die bisherige Bedarfsplanung gegenüber „Kernbereichen“, insbesondere Städten, erheblich benachteiligt. Es sei abzusehen, dass bei den derzeitigen „Kreisstellenkennzahlen“ bisher unterversorgte Gebiete weiterhin unterversorgt bleiben und neue Praxissitze überwiegend in heute schon besser versorgten Gebieten entstehen.
Kompetenzerweiterung
Die Kammerversammlung beauftragte auf Antrag der Kooperativen Liste den Vorstand der Psychotherapeutenkammer NRW, zeitnah eine kontroverse Diskussion dazu vorzubereiten, ob Psychotherapeuten unter anderem zukünftig berechtigt sein sollen:
- Heilmittel zu verordnen (Ergotherapie, logopädische Behandlung, Soziotherapie),
- In stationäre psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung einzuweisen,
- Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen,
- Psychopharmaka zu verordnen.
In Zeiten knapper Ressourcen seien Behandlungspfade und Versorgungswege übersichtlich und kurz zu halten. Die Versorgung psychisch kranker Menschen könne durch diese Erweiterung psychotherapeutischer Kompetenzen verbessert werden und im Behandlungsprozess erfolgen. Der Umweg über einen Arzt verursache zusätzliche Kosten und Belastungen für den Patienten. Eine fachlich begründete Positionierung des Berufsstandes sollte daher in nächster Zeit erfolgen.
Systemische Therapie
Auf Antrag von Kooperativer Liste und Qualität durch Methodenvielfalt bat die Kammerversammlung den Vorstand der Psychotherapeutenkammer NRW, die Umsetzung der wissenschaftlichen Anerkennung der Systemischen Therapie in der Ausbildung voranzutreiben. Die Festlegung der Qualitätsstandards solle durch den Berufsstand selbst erfolgen. Deshalb wird der Ausschuss Fort- und Weiterbildung mit der Prüfung beauftragt, ob und wie Regelungen getroffen werden können, die es ermöglichen, die Systemische Therapie als zusätzliches Verfahren zu erlernen und als anerkennungsfähigen Schwerpunkt nach außen darzustellen – mit dem Ziel, die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie zu ermöglichen.
Satzungsänderung
Die Amtszeit der Kammerversammlung wird entsprechend der Neuregelung im Heilberufsgesetz NRW in Zukunft fünf statt bisher vier Jahre betragen. Eine entsprechende Satzungsänderung wurde von der Kammerversammlung beschlossen.
Psychotherapie in Europa
Das Europäische Parlament hat sich in seinem Bericht über psychische Gesundheit 2008 für eine Verbesserung der psychischen Gesundheit eingesetzt. Es stellte fest, dass zwischen den Mitgliedsstaaten beträchtliche Ungleichheiten im Bereich der psychischen Gesundheit bestehen. Es forderte die Kommission auf, gemeinsame Indikatoren vorzuschlagen, um die Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten, und den Austausch von bewährten Verfahren und die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten zu erleichtern.
Michael Kusch vom Institut für Gesundheitsförderung und Versorgungsforschung in Bochum, präsentierte deshalb auf der Kammerversammlung die Ergebnisse einer Literaturrecherche zur psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung in der Europäischen Union, die er im Auftrag der Psychotherapeutenkammer NRW unternommen hatte. Auf 7.230 Web-Sites fanden sich rund 250 relevante Arbeiten. Davon erwiesen sich 15 Publikationen als qualitativ gute Arbeiten. Damit lagen über 16 von 27 europäischen Ländern ausreichend Informationen zu Psychotherapie vor.
Kusch erläuterte, dass in Europa vor allem folgende psychotherapeutische Verfahren eingesetzt werden:
- Psychoanalyse: in 20 Prozent der europäischen Länder,
- kognitiv-behaviorale Therapie: 15-25 Prozent,
- humanistische Therapie: 20-40 Prozent,
- Familientherapie: 10-15 Prozent,
- transpersonale Ansätze: 5-10 Prozent.
In den angelsächsischen Ländern und Skandinavien liegt der Schwerpunkt auf psychoanalytischen und kognitiv-behavioralen Verfahren, in den lateinischen Ländern auf psychoanalytischen und humanistischen Verfahren.
Elf EU-Nationen kennen eine gesetzliche Regulierung der Praxis von Psychologen (Lizensierung, Registrierung). Um eine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung und Berufsausübung als Psychologe zu erlangen, sind in elf Ländern universitäre Voraussetzungen definiert (Bachelor/Master). In 27 europäischen Ländern und der Schweiz ist die Ausübung der Psychotherapie reguliert. In sieben EU-Staaten existieren ein Titelschutz und eine gesetzlich regulierte Berufsausübung für Psychotherapeuten. In nur drei EU-Ländern gibt es gesetzliche Regulierungen der Psychotherapie als spezieller Profession. In fünf EU-Ländern finden sich gesetzliche Regelungen der Psychotherapie als Multiprofession (nach Bachelor/Master in Pädagogik, Psychologie, Medizin, Pflege, Theologie, Sozialarbeit). Sieben EU-Nationen definieren universitäre Voraussetzungen, um eine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung als Psychotherapeut zu erlangen. Ebenfalls sieben Nationen definieren eine zusätzliche nach-universitäre Ausbildung, um sich als Psychotherapeut bezeichnen zu dürfen.
Eine gesetzliche geschützte Berufsbezeichnung für einen Psychologischen Psychotherapeuten und einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wie in Deutschland findet sich in keinem anderen EU-Staat. Ebenso einmalig ist, dass in England die Behandlungsdauer abhängig ist von der psychischen Störung.
Zukunft der Psychotherapieausbildung
Vorstandsmitglied Wolfgang Groeger gab einen Rückblick über die bisherigen Veranstaltungen zur Zukunft der Psychotherapieausbildung. Die BPtK bot mit vier internen Workshops im Jahr 2008 eine Kommunikationsplattform. Themen der Diskussion waren:
- die akademische Qualifikation: neue einheitliche Bachelor-Master-Abschlüsse in der EU, die zu einem unterschiedlichen Qualifikationsniveau von Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten führen.
- psychotherapeutische Kernkompetenzen: Ausbildungen werden heute nicht mehr ausschließlich über Lerninhalte definiert, sondern sind an Lernzielen bzw. dem Erwerb bestimmter Kompetenzen auszurichten.
- Anforderungsprofile für die Versorgung: Welche spezifischen Anforderungen an die psychotherapeutische Kompetenz ergeben sich aus der Versorgung?
- Wie viel Ausbildung für die Approbation?: Direktausbildung versus heutiger postgradualer Ausbildung.
Wolfgang Groeger hielt eine Entscheidung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) erst nach der Bundestagswahl 2009 für wahrscheinlich, da das Forschungsgutachten, das das BMG in Auftrag gegeben hat, erst Ende April vorliegt. Bis zu einer solchen BMG-Entscheidung bedürfe es allerdings einer mehrheitlichen Positionierung des Deutschen Psychotherapeutentags, damit das Votum der Profession überhaupt politisch wirksam werden könne.
Kinderschutz und Jugendhilfe
Wolfgang Schreck kritisierte in einem Statement zum geplanten Kinderschutzgesetz, dass dabei Psychotherapie zu kurz komme. Aufgrund einer populistisch motivierten Dynamik an Gesetzesinitiativen gegen Kindesmisshandlung würden erfolgreich immer mehr Hochrisikofamilien identifiziert. Dies führe dazu, dass die Jugendhilfe immer häufiger einschreite und Kindern die Eltern weggenommen würden. Schreck mahnte jedoch: „Mit diesen Kindern, die in diesem gesetzlichen Flusensieb hängenbleiben, muss angemessen umgegangen werden.“
Bericht zur Legislaturperiode 2005-2009
Der Vorstand der Psychotherapeutenkammer NRW legte einen „Bericht zur Legislaturperiode 2005-2009“ vor. Darin sind die berufspolitischen Aktivitäten der Kammer in den vergangenen fünf Jahren auf Landes- wie Bundesebene bilanziert. Dem Bericht sind auch die Berichte der Ausschüsse und Kommissionen beigefügt.