„Digitalisierung im Kinderzimmer – Chancen und Herausforderungen“ – Symposium der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen am 25. März 2023
Wie beeinflusst die Mediennutzung Entwicklungs- und Mentalisierungsprozesse im Kindes- und Jugendalter? Wie kann sich der Konsum von digitalen Netzwerken und Spielen auf ihre Psyche auswirken? Wie können digitale Medien in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie eingesetzt werden? Diese Fragen standen im Fokus des 4. Symposiums der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen am 25. März 2023. Ausgerichtet wurde die Online-Veranstaltung federführend von dem Ausschuss „Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen“. Viele der rund 250 Teilnehmenden brachten sich mit Fragen und Anmerkungen aus der eigenen Praxis in die Diskussion ein. Durch die Veranstaltung führten die Ausschussmitglieder Ingeborg Struck und Nora Schneider.
„Die direkte Begegnung ist die existenzielle Grundbedingung“
Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, begrüßte die Teilnehmenden, dankte dem Ausschuss für sein Engagement und der Geschäftsstelle für die Durchführung der Veranstaltung. Die hohe Zahl der Anmeldungen zeige das große Interesse an dem Thema des Symposiums. Einführend erläuterte der Kammerpräsident, dass die Möglichkeit grenzenloser Online-Verbindungen seiner Ansicht nach zu einer entgrenzten Kommunikation führen würden. Gesellschaftliche Spielregeln im Umgang miteinander und zwischenmenschliche Intensität gingen verloren. Durch die Corona-Pandemie habe diese Entwicklung einen Schub erhalten. Anfänglich sei die Erleichterung groß gewesen, über Video weiterhin Kontakt zu Patientinnen und Patienten halten zu können. Schon bald jedoch hätten sich Patientinnen und Patienten wieder persönliche Kontakt gewünscht, berichtete Gerd Höhner. Dies zeige einmal mehr: Eine psychotherapeutische Begegnung sei an den direkten Kontakt der Beteiligten geknüpft. Man könne andere Behandlungsformen integrieren, aber die direkte zwischenmenschliche Begegnung nicht ersetzen. Die Erfahrungen von Behandelnden, Patientinnen und Patienten sowie die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen würden diese grundsätzliche Erkenntnis bestätigen. Entsprechend werde die Kammer weiterhin Möglichkeiten wie Videobehandlungen unterstützen – wenn sie in Kombination mit überwiegend persönlichen Kontakten durchgeführt würden, insbesondere zu Beginn einer Behandlung.
Oliver Staniszewski, Vorsitzender des Ausschusses „Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen“, wies in seiner Begrüßung darauf hin, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen steige, die exzessiv mit Chats und Foren umgehen und von Internetsucht betroffen sind. Sie und ihre Eltern würden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bei diesen Themen als kompetente und wirksame Ansprechpersonen benötigen.
Medienbezogene Störungen im Lichte der Mentalisierungstheorie
Dr. phil. Jan van Loh vom Institut für Psychosomatik der Medizinischen Fakultät der Sigmund-Freud Privat Universität Wien befasste sich in seinem Referat aus tiefenpsychologischer Sicht mit Mentalisierungsprozessen und dem Medialitätsbewusstsein als der Fähigkeit, zwischen „real life“ und der medialen Welt unterscheiden zu können. Die Mentalisierung von Medien und wie sie möglicherweise zu medienbezogenen Störungen beitragen könne, sei bisher wenig in Beziehung zum Medialitätsbewusstsein gesetzt worden, hielt der Psychologische Psychotherapeut fest. Anhand verschiedener Studien erläuterte er einige der bislang vorliegenden Erkenntnisse. Der Medienkonsum dürfe nicht nur quantitativ betrachtet werden, sondern solle immer im Kontext der individuell genutzten Medien und Inhalte gesehen werden. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten seien daher angehalten, sich im Detail darüber zu informieren, was Kinder und Jugendliche online machen. Anhand eines Fallbeispiels erläuterte der Referent, dass als Kernfrage zu beantworten sei, was beim Medienkonsum mentalisiert werde, wie mentalisiert werde und worauf sich die mentalisierten Medieninhalte beziehen würden. Für die fachliche Debatte sehe er die Notwendigkeit, Begrifflichkeiten wie „digitale Introjekte“ oder „digitale Übergangsphänomene“ einzuführen, mit denen sich Forschende und Behandelnde über die Psychodynamik der Störungen medial eingebundener Kinder und Jugendlicher verständigen können.
Evidenzbasierte Online-Therapie zur Behandlung jugendlicher Depression
Univ.-Prof. Dr. phil. Svenja Taubner, Professorin für Psychosoziale Prävention und Direktorin des Instituts für Psychosoziale Prävention an der Universität Heidelberg, stellte das schwedische Programm ERICA (Early Internet-based Interventions for Children and Adolescents with Depression) als Beispiel für die evidenzbasierte Online-Therapie zur Behandlung jugendlicher Major Depression vor. Als zentrale Elemente der auf acht bis zehn Wochen angelegten geführten Selbsthilfe aus acht Modulen beschrieb die Referentin wöchentliches schriftliches Feedback der Therapeutin bzw. des Therapeuten sowie 30-minütige synchrone Chat-Sitzungen. Ergebnisse aus drei abgeschlossenen Studien würden zeigen: Die psychodynamische Behandlung mit ERICA sei ähnlich wirksam wie eine internetbasierte kognitive Verhaltenstherapie, erläuterte die Referentin. In Schweden und in Großbritannien werde ERICA bereits umgesetzt. Um das Programm auch in Deutschland implementieren zu können, hat Prof. Dr. Svenja Taubners Arbeitsgruppe zusammen mit einem Forschungsteam der Universität Freiburg einen Förderantrag beim Innovationsfond eingereicht.
Digitales Leben als selbstverständlicher Teil der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Christina Kurzweil, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Iserlohn, gab einen Überblick über die aktuelle Mediennutzung durch junge Menschen und nannte praxisbezogene Beispiele, wie von ihnen häufig genutzte digitale Medien in der Psychotherapie zur Anwendung kommen können. Apps ließen sich unter anderem für Hausaufgaben und als digitale Symptomtagebücher, zur Unterstützung im Symptommanagement oder als Skilltrainer nutzen. Bestimmte digitale Medien könnten zur Psychoedukation und unterstützend zur Normalisierung von Störungsbildern oder zum Aufbau des Selbstwertes eingesetzt werden. Insbesondere die Einbindung von sozialen Netzwerken in die Therapie müsse jedoch stets gut vorbereitet werden, betonte Christina Kurzweil. Wichtig sei auch, die jungen Patientinnen und Patienten über die Funktionsweise der hinterlegten Algorithmen aufzuklären. Gemeinsam ließe sich dann z. B. der vorhandene Feed analysieren und überlegen, wie er positiv verändert werden könnte. Weiterführend sollte in der Therapie thematisiert werden, wann digitale Medien sinnvoll seien und wann es von Vorteil sei, Handy und Co. beiseitezulegen.
Metafunktionen von digitalen Netzwerken, Gaming und Co. – Segen und Fluch des „second life“
Dr. phil. Stefan Kimm von der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe und Leiter der Spezialsprechstunde für Computerspiel- und Internetabhängigkeit der Elisabeth-Klinik Dortmund, beschrieb zentrale Merkmale von digitalen im Unterschied zu „real life“-Netzwerken. Dies seien unter anderem Bewertungsschemata als zentraler Kommunikationsaspekt und die Möglichkeit, sich selbst nach eigenen Vorstellungen präsentieren zu können. Am Beispiel einer Online-Trauerfeier verdeutlichte er, dass solche Netzwerke für die Teilnehmenden ebenso real und hoch funktional sein könnten wie jeder andere soziale Raum. Mit Blick auf die Gefährdungen durch social media erklärte Dr. Stefan Kimm, dass sich in virtuellen sozialen Netzwerken pathologische Entwicklungsräume öffnen können. Beispiele seien ein krankhafter Rückzug aus der Realität und ein „Versinken“ in der Online-Welt. Ebenso könnten negative Rückmeldungen Probleme bereiten, wenn Selbstwert und Selbstbild nicht gefestigt seien. In der Folge könne es zu Depression und Entfremdung im realen Leben kommen, zu Angststörungen, da Übung im Umgang mit der Realität fehle, sowie zu Persönlichkeitsstörungen, wenn das virtuelle Ich die Führung übernehme.
Angeregte Diskussionen mit großem Praxisbezug
In die Diskussionen der Vorträge brachten die Teilnehmenden Erfahrungen aus der eigenen Praxis ein und erörterten Herausforderungen und Aufgaben, die im Zuge der zunehmenden Digitalisierung auf Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zukommen. Auch berufspolitische Aspekte flossen ein. Oliver Staniszewski hielt abschließend fest, dass die Auseinandersetzung mit digitalen Räumen im Zusammenspiel mit der äußeren und der inneren Welt der Patientinnen und Patienten hochkomplex sei. Er sei dankbar, dass die Kammer Veranstaltungen wie die heutige ermögliche und die Arbeit im Ausschuss unterstütze. Man werde sich in diesem Gremium der Kammer weiterhin intensiv mit den Chancen und Risiken digitaler Medien im Kontext der psychischen Entwicklung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen befassen.