Stigmatisierung in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen – Symposium der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen am 2. März 2024
„Bin ich ein schwerer Fall? – Stigmatisierung in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen“ – mit dieser Thematik befasste sich das 5. Symposium der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen am 3. März 2024. Die erstmals hybrid umgesetzte Veranstaltung wurde federführend von dem Ausschuss „Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen“ ausgerichtet. Rund 35 Interessierte waren der Einladung in die Geschäftsstelle der Kammer gefolgt, über 150 nahmen per Video teil.
Durch die Veranstaltung führten die stellvertretende Ausschussvorsitzende Manush Bloutian-Walloschek und das Ausschussmitglied Ralph Schliewenz. Jeweils im Anschluss an drei Fachvorträge nutzten die Teilnehmenden die Gelegenheit für Fragen und Kommentare. In einer abschließenden Podiumsdiskussion mit dem Ausschussvorsitzenden Oliver Staniszewski und Mitgliedern des bundesweiten Kinder- und Jugendrats von SOS-Kinderdorf wurden unter Beteiligung der Teilnehmenden im Plenum weitere Aspekte zum Thema angesprochen und Fragestellungen vertieft.
Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, begrüßte online zugeschaltet die Teilnehmenden. Er dankte dem Ausschuss für die Konzeption und Umsetzung des mittlerweile 5. Symposiums der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und seinen Vorstandskolleginnen Cornelia Beeking und Birgit Wich-Knoten für ihre Mitwirkung an der Vorbereitung. Dem Team der Geschäftsstelle sprach er Dank für das Management der Veranstaltung aus. Sein Dank galt auch Dr. Kirsten Kappert-Gonther, amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses und Mitglied des Deutschen Bundestages für die Fraktion Bündin90/Die Grünen, für ihr Grußwort zum Symposium. Ihr berufspolitisches Engagement für die Belange der Profession der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten schätze er sehr, betonte der Kammerpräsident.
„Hilfsangebote kommen oft zu spät“
Mit Blick auf das Veranstaltungsthema verdeutlichte Gerd Höhner, dass „schwere“ Fälle im Kindes- und Jugendalter häufig deshalb so problematisch seien, weil Hilfsangebote oft zu spät kamen. Es fehle schlichtweg an angemessen finanzierten Angeboten im Leistungskatalog für die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere bezüglich notwendiger Kooperationen wie z. B. Mitarbeitenden der Jugendhilfe. Als weiteren Aspekt sprach er die auf Landes- und Bundesebene bereits seit langem bestehende Forderung der Profession an, psychischen Störungen präventiv zu begegnen. Die Bedeutung von Prävention vor allem im Kindes- und Jugendalter sei unbestritten. Ihrer Umsetzung stehe jedoch entgegen, dass sich Krankenkassen und Kommunen gegenseitig die Zuständigkeit zuschieben würden. Gerd Höhner erwähnte als problematisch zudem die falsche Betrachtungsweise „kleine Menschen hätten kleine Sorgen“ und eine allgemein häufig fehlende Akzeptanz psychischer Probleme. Entstigmatisierung sei daher ein Dauerthema mit hoher gesellschaftspolitischer Relevanz. Entsprechend sei es von großer Bedeutung, dass sich der Berufsstand wie beispielsweise bei dem Symposium damit befasse.
Entstigmatisierung als gemeinsame Aufgabe
Dr. Kirsten Kappert-Gonther beschrieb in ihrer Video-Grußbotschaft Stigmatisierung und Diskriminierung als große Hürden für Betroffene auf dem Weg zu passenden Hilfen. Auch das Hilfesystem selbst sei nicht frei von Stigmatisierung aufgrund psychischer Erkrankung und der Zuschreibung anderer Merkmale etwa im Kontext von Herkunft. Um Professionelle im Hilfesystem für dieses Thema zu sensibilisieren, brauche es Fortbildung. Dies sei eine wichtige Aufgabe der Psychotherapeutenkammer. Zudem gelte es, Menschen aller Altersstufen mit eigener Krankheitserfahrung ausreichend an Antistigma-Kampagnen und in der Politik zu beteiligen, sagte Dr. Kirsten Kappert-Gonther.
Im beruflichen und im privaten Umfeld seien alle aufgerufen, darauf hinzuwirken, dass Menschen besser über ihr Krankheitserleben sprechen können. Dies gelte vor allem für schwere Störungsbilder, die besonders stark stigmatisiert würden. In der aktuellen Situation sich überschneidender Drucksituationen und Krisen würden gerade jene, die bereits marginalisiert seien, Gefahr laufen, noch weiter an den Rand gedrängt zu werden. Sie betrachte es als gemeinsame Aufgabe, alle Menschen in den Blick zu nehmen, eine niederschwellige Inanspruchnahme früher Interventionen und mehr Teilhabe zu ermöglichen, so die Politikerin. Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien festgehaltene Vorhaben zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen würden bereits umgesetzt. Ziel sei, Interventionen zu entwickeln, zu evaluieren und insbesondere bereits als wirksam bekannte Maßnahmen zu implementieren. Um Diskriminierung und Stigmatisierung zu reduzieren, sei es ein entscheidender erster Schritt, hierzu in einen konstruktiven Austausch zu kommen – unter anderem auf Veranstaltungen wie dem Symposium der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen.
Für integrierendes Miteinander
Oliver Staniszewski, Vorsitzender des Ausschusses „Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen“, beschrieb in seiner Begrüßung den großen Leidensdruck psychisch kranker junger Menschen. Hierbei würden sowohl die jeweils individuellen Schwierigkeiten und Störungen wie auch die Reaktionen des Umfeldes, gesellschaftliche Festlegungen und Ausgrenzung zum Tragen kommen. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten würden Kinder, Jugendliche und Familien mit Behandlungsbedarf seit über 20 Jahren nach aktuellem Stand der Wissenschaft und mit Herz und Verstand versorgen. Sie würden zurate gezogen, Stellungnahmen abgeben, informieren und aufklären. Anhand ihrer Expertise fände psychotherapeutisches Knowhow tagtäglich Einzug in die verschiedenen Hilfesysteme und die Politik, hob Oliver Staniszewski hervor. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten würden auf diese Weise in die Gesellschaft hineinwirken. Dabei stünden sie auch für den Abbau von Stigmatisierung und für ein zugewandtes, integrierendes Miteinander in Familie und Gesellschaft.
Kommunikative Prozesse von Entstigmatisierung
Ralph Schliewenz blickte in der thematischen Einführung auf kommunikative Aspekte im Zusammenhang von Stigmatisierung und Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen. Studienergebnisse ließen erkennen, dass Kinder und Jugendliche sich schwertun, über das zu sprechen, was sie belastet. Im Behandlungsverlauf würden sich wahrnehmbare Stigmatisierungsaspekte verringern, aber nicht vollständig verlieren. Entsprechend wichtig sei es, Bildung bzw. Mental Health Literacy zu fördern. Ansätze aus der Sozialpsychologie beschrieb Ralph Schliewenz als wertvoll, um mehr über Gruppenzuschreibungen und identitätsstiftende Prozesse zu erfahren.
Prof. Dr. Matthias R. Hastall, Inhaber des Lehrstuhls für Qualitative Forschungsmethoden und strategische Kommunikation für Gesundheit, Inklusion und Teilhabe der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund, ergänzte die Einleitung in seinem Vortrag mit Befunden und Anregungen für eine Anti-Stigma-Kommunikation im Kontext von Psychotherapie. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten hätten einerseits als Behandelnde die Chance, eine vulnerable Personengruppe zu stärken. Gleichzeitig würde ihre Arbeit mit psychisch Erkrankten auch eigene Stigmatisierung bewirken. Prof. Dr. Matthias R. Hastall motivierte, sich mit diesem Spannungsverhältnis auseinanderzusetzen und die eigene Haltung und das eigene Handeln selbstkritisch zu hinterfragen. Vor dem Hintergrund verschiedener Formen von Stigma stellte er weiterführend Ansätze vor, wie Behandelnde den Fallstricken der Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen etwas entgegensetzen und Patientinnen und Patienten in ihrem Stigma-Management unterstützen können.
Über Stigmatisierung sprechen
Prof. Dr. Michael Borg-Laufs, Dekan des Fachbereichs Sozialwesen der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, erklärte in seinem Vortrag „Zur Stigmatisierung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher“, dass aufgrund der Studienlage davon auszugehen sei, dass alle jungen psychisch kranken Menschen mehr oder weniger Erfahrungen mit Stigmatisierung machen würden. Die Folgen seien vielfältig und langfristig, hielt der Psychologische Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut fest. Auch ihre Eltern würden häufig stigmatisiert. Ihre daraus erwachsende Sorge, im Hilfesystem Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu begegnen, könne die Inanspruchnahme von Unterstützung verhindern. Strukturelle Diskriminierung etwa durch Annahmen über die Tauglichkeit für bestimmte Berufe könne den Weg ins Hilfesystem ebenfalls behindern. Stigmaresistenz und -management würden durch Faktoren gefördert, die letztlich den psychischen Grundbedürfnissen entsprechen würden. Für die psychotherapeutische Arbeit regte Prof. Dr. Michael Borg-Laufs an, mit jungen Patientinnen und Patienten über Selbststigma und stärkende Aspekte zu sprechen. Berufspolitisch müsse die Versorgungslage psychisch belasteter und kranker Kinder und Jugendlicher als skandalös bezeichnet werden. Für eine gelingende psychotherapeutische Arbeit habe man sich damit zu befassen, welche Maßnahmen gute Effekte bringen. Schließlich müssten mehr Mittel für die Forschung zu wirksamen Hilfen für psychisch kranke Kinder und Jugendliche bereitgestellt werden.
Zusammenhänge von Psyche und Stigma
Dagmar Lehmhaus, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Achterwehr, blickte in ihrem Vortrag aus psychodynamischer Perspektive auf Stigmatisierung und Selbststigmatisierungen im kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Kontext. Mit der Psychiatrie-Enquete von 1975 seien seelische Störungen krankheitswertig geworden. Auch das Stigma der Unbehandelbarkeit von Kindern und frühen Störungen sei aufgebrochen worden. Die Akzeptanz für die Betroffenen habe sich allerdings nicht wesentlich verbessert. Nach wie vor gäbe es zu wenig fundiertes Wissen, auch verzerrende Mediendarstellungen würden Stigmatisierung befördern. Betroffene seien den damit verbundenen Prozessen und Etikettierungen meist hilflos ausgeliefert. Mit der Zeit würden sie die ihnen zugeschriebene negative Bewertung verinnerlichen, beschrieb Dagmar Lehmhaus. Das Leiden an Stigma und Vorurteilen könne schließlich so ausgeprägt sein, dass es wie eine zweite Krankheit wirke. Lebensqualität und soziale Teilhabe würden abnehmen, Diskriminierung und Mobbing zunehmen. Betroffenen falle es in dieser Lage schwer, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Abschließend skizzierte sie vor dem Hintergrund der sensiblen Zusammenhänge von Psyche und Stigma, was in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen für eine gelingende gemeinsame Bewältigungsarbeit beachtet werden könne.
Angeregte Podiumsdiskussion
Dagmar Lehmhaus, Oliver Staniszewski sowie Lea Stellmacher und Vanessa Keller aus dem Vorstand des Kinder- und Jugendrats von SOS-Kinderdorf erörterten in einer Podiumsdiskussion weitere Themenaspekte. Die 21-Jährige und die 24-Jährige schilderten eigene Erfahrungen mit Stigmatisierung und stellten ihre politische Arbeit vor. Im gemeinsamen Austausch auch mit dem Plenum wurde unter anderem die Bedeutung von Niederschwelligkeit und Verfahrensvielfalt für die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen benannt. Erfreulich sei, dass im Januar 2024 die Systemische Therapie für die Versorgung als Kassenleistung zugelassen wurde, sagte Oliver Staniszewski. Die Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen hätte sich in den vergangenen Zeiten wiederholt dafür eingesetzt. Der Ausschussvorsitzende wies ferner darauf hin, dass Lösungen für organisatorische Besonderheiten beispielsweise bei der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus Wohngruppen geschaffen werden müssten. Darüber hinaus sprachen Teilnehmenden über Handlungsmöglichkeiten bei fehlender Einwilligung in die Psychotherapie seitens der Eltern. Eine Petition des Kinder- und Jugendrates von SOS-Kinderdorf [externer Link] greife ebenfalls Themen wie selbstbestimmte Entscheidung und Entstigmatisierung auf, informierten die beiden SOS-Kinderdorf-Vertreterinnen.
Zum Ende eines inhaltsreichen Veranstaltungstages motivierten Manush Bloutian-Walloscheck und Ralph Schliewenz, sich gemeinsam weiterhin dafür einzusetzen, dass Krankheit kein Stigma bleibt, die psychische Gesundheit junger Menschen gestärkt und die Versorgung von Kindern und Jugendlichen verbessert wird. Birgit Wich-Knoten dankte im Namen ihrer Vorstandskolleginnen und Kollegen den Teilnehmenden für ihre Beiträge und dem Ausschuss für das Engagement und die gelungene Konzeption und Durchführung des Symposiums.