Eklatanter Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie

Ende Oktober 2024 veröffentlichte der Westdeutsche Rundfunk eine umfangreiche Recherche zu dem eklatanten Mangel an Kapazitäten in den Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Nordrhein-Westfalen (s. WDR-Meldung „Exklusiv: Kinder- und Jugendpsychiatrien in NRW nahezu ausgelastet“) [externer Link]. In den Einrichtungen fehlen Behandlungsplätze ebenso wie Fachpersonal, um besonders psychisch belastete Kinder und Jugendliche zu behandeln. Zudem hat die Anzahl betroffener junger Menschen und die Schwere von psychischen Symptomen wie beispielsweise Angst, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und Essstörungen in und nach der Corona-Pandemie deutlich zugenommen. Dies belegen verschiedene große Studien, u. a. die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf  [externer Link] und die Analyse des Kinder- und Jugendreports 2024 der DAK-Gesundheit  [externer Link].

Offensichtliche Mängel sind „hausgemacht“

Aus Sicht der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen ist die unzureichende Versorgung von Kindern und Jugendlichen „hausgemacht“. „Anders als bei den Pflegekräften gibt es zahlreich approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten, die an einer Anstellung in der Klinik Interesse hätten, wenn entsprechende Stellen ausgeschrieben und angemessen gestaltet würden“, erklärt Bettina Meisel, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen. „Auf diese Weise ließe sich das psychotherapeutische Angebot während eines Klinikaufenthalts deutlich erhöhen. Patientinnen und Patienten, die ich nach einem stationären Aufenthalt weiterbehandelt habe, haben mir zum Beispiel berichtet, dass es in der Klinik Wochen ohne Einzel- oder Gruppenpsychotherapie gab, weil die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut der Station krank oder im Urlaub war und keine Vertretung zur Verfügung stand.“

Das Problem: Es gibt zu wenig festangestellte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in den Kliniken. „Ein maßgeblicher Teil der Versorgung erfolgt häufig durch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Ausbildung (PiA)“, sagt Elisabeth Dallüge, lange Zeit Sprecherin der PiA-Vertretung NRW und seit August 2024 ebenfalls Mitglied im Kammervorstand. „Aufgrund rechtlicher Grauzonen des alten Systems arbeiten sie häufig unter prekären Bedingungen. Erfahrene, approbierte Kinder- und Jugendichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten sind in den Kliniken zudem viel zu selten hinreichend im Stellenplan verankert.“

Zu wenig Personal in psychiatrischen Krankenhäusern

„Ein grundlegendes Problem stellt auch die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegte Richtlinie für Personalausstattung, Psychiatrie und Psychosomatik (PPP-Richtlinie) dar, die bundesweit die Personalausstattung in den psychiatrischen Krankenhäusern vorgibt“, erklärt Andreas Pichler, Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen. „Das zeigt sich schon in der unzureichenden Definition der Berufsgruppen. Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten sind in der ambulanten Versorgung selbstverständlich der Gruppe der Fachärztinnen und Fachärzte zugeordnet. Ihre zentrale Rolle in der stationären Behandlung wird in der Richtlinie jedoch kaum berücksichtigt. Dies erschwert eine adäquate Versorgung von Kindern und Jugendlichen unnötig.“

Damit ist nicht nur die psychische Gesundheit der besonders belasteten Kinder und Jugendlichen gefährdet. Langfristig besteht auch die Gefahr, dass zukünftig in der Versorgung Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten fehlen, die Kinder und Jugendliche behandeln. Die Reform des Psychotherapeutengesetzes im Jahr 2020 sollte die Bedingungen sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für angehende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten verbessern. Nach dem neuen Psychotherapie-Masterstudium können Studierende ihre Approbationsprüfung ablegen, bevor sie eine fünfjährige Fachweiterbildung beginnen. Mindestens zwei Jahre dieser Weiterbildung sind in der stationären Versorgung zu absolvieren. Für die Umsetzung braucht es allerdings in den Kliniken festangestellte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die mit ausreichender Erfahrung in diesem Bereich die fachliche Verantwortung für die Weiterbildung übernehmen können. Durch die nicht ausreichenden Vorgaben in der Richtlinie für Personalausstattung, Psychiatrie und Psychosomatik wird der Fachkräftemangel weiter verschärft. Auch die Vergütung ist ungenügend. Sie steht in keinem Verhältnis zu den belastenden Arbeitsbedingungen, die inzwischen für alle Berufsgruppen im Gesundheitssystem zur täglichen Realität gehören.

Folgen kommen die Gesellschaft teuer zu stehen

„Die angeblichen ‚Einsparungen‘ sind für unsere Gesellschaft mit sehr großen Kosten verbunden“, gibt Bettina Meisel zu bedenken. „Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft. Und unzureichend behandelte psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen erhöhen das Risiko, auch im Erwachsenenalter häufiger zu erkranken und psychische sowie psychosomatische Symptome zu entwickeln, die bis zur Arbeitsunfähigkeit führen können.“

Um die Erfolge von stationären Behandlungen zu festigen und in den Alltag zu transferieren, ist nahezu immer eine anschließende ambulante Psychotherapie erforderlich. Auch dafür fehlt es nicht grundsätzlich an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, sondern an ausreichend Kassensitzen für Psychotherapie. Zumindest für Kinder und Jugendliche ist in dem Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) eine neue Bedarfsplanung politisch angedacht. Denn: Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die sich in kritischen Entwicklungsphasen befinden, wirken sich lange Wartezeiten besonders negativ aus. Eine rechtzeitige ambulante Psychotherapie kann häufig dazu beitragen, einen stationären Aufenthalt zu vermeiden. Aber dafür braucht es verfügbare ambulante Psychotherapieplätze.

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