Ergebnisse der TK-Studie: Psychotherapie nachhaltig wirksam - Interview mit Prof. Dr. Werner W. Wittmann
Psychotherapie ist nachhaltig wirksam. Das ist das Ergebnis einer Langzeitstudie, an der von 2005 bis 2009 rund 1.700 Patienten und knapp 400 Psychotherapeuten in Westfalen-Lippe, Hessen und Südbaden teilnahmen. Die Studie, die von der Techniker Krankenkasse (TK) finanziert wurde, untersuchte die Erfolge ambulanter Psychotherapien unter Alltagsbedingungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Psychotherapeutenkammer NRW begrüßte 2004 die TK-Initiative, „erstmals den Versuch zu unternehmen, im ambulanten Bereicht der Verpflichtung nach § 135 SGB V nachzukommen, Maßnahmen zur Verbesserung der Ergebnisqualität zu erproben“. Der Kern des Modellprojekts ist ein modernes Feedbacksystem, das die Patientenperspektive in den Mittelpunkt stellt und ein breites Spektrum an Kriterien berücksichtigt: Symptomveränderungen, interpersonelles Verhalten, eine störungsspezifische Bewertung, die Qualität der therapeutischen Arbeitsbeziehung und die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Die Evaluation des Projekts wurde auf Basis psychometrischer Erhebungen (incl. 1-Jahres-Katamnese) und klinischer Befunde vorgenommen sowie auf Basis von Befragungen der beteiligten Patienten, Therapeuten und Gutachter.
Prof. Dr. Werner W. Wittmann von der Universität Mannheim, der zusammen mit Prof. Wolfgang Lutz von der Universität Trier die Evaluation durchführte, stellt im Interview die zentralen Ergebnisse der Langzeitstudie dar.
Was war der Anlass für das TK-Modellprojekt?
Es sollte in einer randomisierten Studie überprüft werden, ob der Einsatz von psychometrischen Verfahren in Verbindung mit einem modifizierten Gutachterverfahren (TK-Modell) zu einer höheren Ergebnisqualität führt als das traditionelle Gutachterverfahren. Im TK-Modell wurde nur dann eine Begutachtung durchgeführt, wenn auf den psychometrischen Skalen keine klinische Auffälligkeit zu Therapiebeginn feststellbar war. In der Kontrollgruppe erfolgte der Zugang zur Therapie wie gewohnt. Im TK-Modell erhielten die Therapeuten die Fragebogenergebnisse darüber hinaus nach bestimmten Sitzungsintervallen zurückgemeldet. Auf diese Weise konnten sie ihr klinisches Urteil mit den psychometrischen Ergebnissen im Therapieverlauf immer wieder abgleichen und die Testprofile auch mit den Patienten besprechen. Die Kontrollgruppe erhielt keine Rückmeldung der Testergebnisse.
Wie wurde die Qualität der ambulanten Psychotherapien festgestellt? Welche psychometrischen Instrumente wurden eingesetzt?
Die Therapeuten füllten eine Basisdokumentation bei Therapiebeginn und bei Therapieende aus. Zur Beurteilung des gesundheitlichen Befindens wurden neben dem BSS und GAF auch Problemratings in Anlehnung an die Basisdokumentation Fachpsychotherapie (PsyBado) erhoben, darüber hinaus wurden auch Fragen zur Erwerbsfähigkeit und Medikation gestellt. Die Therapeuten der Interventionsgruppe erhielten im Gegensatz zu den Therapeuten der Kontrollgruppe darüber hinaus auch die ICDL-Diagnosechecklisten sowie das Berner Therapieziel Inventar BIT.
Die Patienten füllten das Brief Symptom Inventory BSI, das Inventar für interpersonale Probleme IIP, den SF12 sowie in Abhängigkeit von der jeweiligen Hauptdiagnose ein störungsspezifisches Instrument (wahlweise BDI bei depressiven Störungen, AKV bei Angsterkrankungen, SOMS bei somatoformen Störungen, HZI bei Zwangserkrankungen oder EDI bei Essstörungen) aus. Um ein zusammenfassendes Bild vom aktuellen Status der Patienten zu erhalten wurden die Einzelinformationen der Therapeuten- und Patientensichtweise jeweils zu multiplen Ergebniskriterien aggregiert. Zur standardisierten Erfolgsbewertung wurden Effektgrößen berechnet. Zur Beurteilung der Prozessqualität wurde von den Patienten außerdem der Helping Alliance Questionnaire HAQ erhoben.
Welche Fragen bekamen Psychotherapeut und Patient wann gestellt?
Die Therapeutenratings wurden bei Therapiebeginn und bei Therapieende erhoben.
Die Patienten füllten ihre gesamte Testbatterie (BSI, IIP, SF12 und störungsspezifischer Test) bei Therapiebeginn, bei Therapieende sowie ein Jahr nach Therapieende (1-Jahres-Katamnese) aus. Die Patienten der Interventionsgruppe machten darüber hinaus Zwischenmessungen (so z.B. nach der 10., 20., 40. und 55. Sitzung).
Zu den Ergebnissen: Welche Patienten kommen zum niedergelassenen Psychotherapeuten? Welche Diagnosen werden gestellt? Wie schwer sind ihre psychischen Erkrankungen, auch im Vergleich mit stationären Diagnosen?
Der Altersdurchschnitt liegt bei 40,5 Jahren und der Frauenanteil bei 70%.
Mit einem Abiturientenanteil von etwa 42% zeigt sich eine Tendenz zu höheren Bildungsabschlüssen. Das Diagnosespektrum ist typisch für den ambulanten Bereich, es überwiegen bei den Hauptdiagnosen depressive Störungen, gefolgt von Angststörungen. Dabei liegt eine klinisch relevante Beeinträchtigung vor, d.h. es ist ein deutlicher Behandlungsbedarf bei den Patienten festzustellen. Auch im BDI liegt die Belastung zu Therapiebeginn mit 20 Punkten deutlich oberhalb der von den Testautoren angegebenen klinisch relevanten Grenze. Bei den depressiven Episoden und rezidivierenden depressiven Störungen ist die Kategorie "mittelgradig" (F32.1 bzw. F33.1) besonders häufig vertreten.
Vor einigen Jahren hat unsere Arbeitsgruppe eine größere Metaanalyse zur Ergebnisqualität stationärer psychosomatischer Rehabilitation durchgeführt. In mehreren Studien wurde auch die SCL-90-R erhoben. Für die psychosomatischen Kliniken konnten folgende SCL-90-R-Werte ermittelt werden. Danach betrug der Aufnahme-Mittelwert bei Aufnahmen in die Klinik über 32 Studien (insgesamt 6.460 Patienten (psychosomatische Rehabilitanden) zu Therapiebeginn 1,18.:
Dies entspricht also so ziemlich genau der Größenordnung, die wir im inhaltlich vergleichbaren BSI, der eine Kurzform der SCL-90-R ist, im TK-Projekt gefunden haben, hier liegt der Rohwert bei 1,22 (Interventionsgruppe) bzw. 1,14 (Kontrollgruppe). Natürlich sind in der psychosomatischen Rehabilitation andere Voraussetzungen zu beachten, auch dort bilden aber Depressionen und Ängste zwei wichtige Hauptproblemgruppen.
Ein weiterer Punkt ist die relativ lange Krankengeschichte der ambulanten Psychotherapiepatienten. So liegt die Erstmanifestation der Erkrankung im Mittel bereits sieben Jahre zurück und die aktuelle Manifestation mehr als zwei Jahre. Im Durchschnitt müssen die Patienten mehr als sechs Wochen lang auf ihr Erstgespräch warten.
Ergaben sich Unterschiede durch das Qualitätsmonitoring: andere Diagnosen, mehr Diagnosen, unterschiedliche Zahl an Therapiesitzungen, unterschiedliche Längen der gesamten Behandlung?
Insgesamt werden in der Interventionsgruppe mehr Zweit-, Dritt- und Viertdiagnosen festgestellt als in der Kontrollgruppe. Dies ist möglichweise auf die umfangreichere Diagnostik (ICDL-Checklisten, Therapiezielkatalog) zurückzuführen. In der Interventionsgruppe werden etwas mehr Therapiesitzungen als in der Kontrollgruppe abgerechnet, allerdings bewegt sich dies noch im Rahmen der Zahlen, die in großen Vergleichsstichproben, die nicht am Modellvorhaben teilnahmen, berichtet werden.
Wie erfolgreich behandeln niedergelassene Psychotherapeuten? Ist Psychotherapie wirksam?
Diese Frage kann eindeutig mit ja beantwortet werden! Die beobachteten Effektgrößen liegen aus Therapeuten- und Patientensicht beim Vergleich zwischen Therapieanfang und Ende über 1,00 und bewegen sich damit im oberen Bereich metaanalytischer Vergleichsuntersuchungen! Diese Effekte sind auch in der 1-Jahres-Katamnese stabil.
Wie bewerteten die Patienten die Möglichkeit, Fragen zum Therapieverlauf zu beantworten?
Die Patienten bewerten das Modellvorhaben fast durchgängig sehr positiv (mehr als 90%).
Wie bewerteten die Psychotherapeuten den Einsatz von psychometrischen Instrumenten und Fragebögen?
Die Therapeuten sind etwas zurückhaltender mit ihrer Bewertung, immerhin äußern sich etwa 3/4 als zufrieden.
Lohnt sich Psychotherapie auch ökonomisch?
Ja, eindeutig. Kosten-Nutzen-Berechnungen mit entsprechenden ökonomischen Gleichungen zeigen, dass sich jeder für die ambulante Psychotherapie investierte Euro gesamtgesellschaftlich gesehen dreifach auszahlt!
Hat sich das Gutachterverfahren bewährt oder ist es „zu bürokratisch“, wie die TK feststellt?
Zwischen Interventionsgruppe und Kontrollgruppe haben sich keine statistisch signifikanten Unterschiede bei der Ergebnisqualität der durchgeführten Behandlungen gezeigt, d.h. die modifizierte Vorgehensweise zur Qualitätssicherung im TK-Modell ist dem traditionellen Verfahren weder unter- noch überlegen.
Auf der einen Seite entfällt einiges an Aufwand für die traditionelle Begutachtung, auf der anderen Seite ist der Mehraufwand durch die standardisierte Diagnostik (in Verbindung mit der modifizierten Begutachtung) einzuwenden. Diese Frage kann von uns aus den uns vorliegenden Daten daher nicht beantwortet werden, sondern sollte von den Vertretern aller beteiligten Interessengruppen (Therapeuten, Patienten, Krankenkassen, Gutachter) gemeinsam diskutiert werden.
Festzuhalten bleibt, dass mit der TK-Studie wertvolle Daten für die Versorgungsforschung gewonnen wurden und angesichts der sehr guten Ergebnisqualität eine beeindruckende Dokumentation der Leistungsfähigkeit der ambulanten Psychotherapie vorliegt, die deren Bedeutung für das Versorgungssystem in Deutschland unterstreicht.