Großer Ratschlag „Internet in der Psychotherapie“
In den letzten 20 Jahren ist der Anteil der „Onliner“ in Deutschland stetig gestiegen: 2017 nutzten rund 62 Millionen Menschen das Internet (ARD/ZDF-Onlinestudie), der Anteil der Online-Nutzer liegt bei rund 89 Prozent (statista.com). Die Bedeutung der digitalen Medien und die Veränderung der Kommunikationswelt machen auch vor der Profession der Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und der Ausübung von Psychotherapie nicht Halt. Zu diesem Thema hatte die Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) am 24. Januar 2018 ihre Kammerversammlungsmitglieder zu einem Großen Ratschlag in die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe in Dortmund eingeladen.
Ziel der Veranstaltung war, über den Sachstand zu informieren und damit verbundene zentrale Themen zu diskutieren. „Wir müssen uns damit befassen, was aus fachlicher Perspektive unter Psychotherapie mittels Anwendung von Internetangeboten zu verstehen ist, welche seriösen Angebote wir machen können und wo wir Grenzen sehen“, hob Gerd Höhner, Präsident der PTK NRW, in seiner Begrüßung hervor. „Auch mit den rechtlichen Rahmenbedingungen müssen wir uns beschäftigen. Eine zentrale Frage ist beispielsweise, wo Beratung endet und wo Behandlung beginnt“. Moderiert wurde der Große Ratschlag von Mechthild Greive, Beisitzerin im Vorstand der PTK NRW.
Einblick in die Forschung
Über den Stand der Forschung informierte Prof. Dr. Harald Baumeister von der Universität Ulm in seinem Impulsreferat „Blended Therapy: Integration neuer Medien in den psychotherapeutischen Alltag“. Der Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie und der psychotherapeutischen Hochschulambulanz führte an, dass eine Fülle von Studien die Wirksamkeit von Interventionen mittels Internet und Smartphones belege, wobei therapeutisch begleitete Online-Programme mehr Wirksamkeit entfalten würden als unbegleitete. Hinsichtlich des Vergleichs mit face-to-face-Angeboten ließen eidenzbasierte Metaanalysen erkennen: Bei Erwachsenen, die sich die Nutzung sowohl von Online- als von Offline-Angeboten vorstellen können, wirke beides gleich gut. Auch eine Metaanalyse für den Kinder- und Jugendlichenbereich zeige keinen Unterschied in der Wirksamkeit. Vergleichsweise wenig ließe sich derzeit darüber sagen, wie viele Menschen Online-Interventionen für akzeptabel halten. Es zeige sich aber, dass Informationen und Aufklärung die Akzeptanz erhöhen. Diskutiert werde zudem, ob Online-Therapien den Zugang zu klassischen Psychotherapien erleichtern oder erschweren können.
Als eine Verzahnungsmöglichkeit von Online-Interventionen und unmittelbarer Psychotherapie beschrieb Baumeister die sequentielle Abfolge. Hierbei können Online-Maßnahmen der erste Schritt sein, etwa für Menschen, die auf einen Therapieplatz warten, oder auf den direkten Therapeutenkontakt folgen, zum Beispiel für die Nachsorge im Anschluss an einen Klinikaufenthalt. Eine andere Form der Umsetzung der Blended Therapy sei die Integration einzelner Internetmodule in eine unmittelbare Psychotherapie vor Ort. Neben Fragen zu Wirksamkeit, Versorgungsrelevanz und der Gestaltung von Angeboten stellte der Referent als weitere Diskussionspunkte den Weg in die Praxis und die Auswirkungen der Veränderungen auf das Verständnis von Psychotherapie und das Selbstverständnis des Berufsstandes heraus. Die Profession sollte sich in jedem Fall mit dem Thema „Online-Angebote in der Psychotherapie“ befassen. Würden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten hier nicht aktiv, sei die Frage, wer dieses Feld zukünftig übernehmen würde.
Rechtliche Voraussetzungen
Über die rechtlichen Rahmenbedingungen für mediengestützte Interventionen in der Psychotherapie informierte Prof. Dr. Martin H. Stellpflug, Justiziar der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Er erläuterte, dass Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten laut ihrer Berufsordnung mediengestützte Interventionen grundsätzlich anwenden dürfen. Wesentlich sei, Beratung und Heilkunde voneinander abzugrenzen. Zudem halte die Berufsordnung fest, dass bei Psychotherapien mithilfe elektronischer Kommunikationsmedien besondere Sorgfaltspflichten einzuhalten seien. Vor allem hinsichtlich Aufklärung und Diagnosestellung würden sich daraus besondere Anforderungen ergeben.
Grundsätzlich setze die Einwilligung in eine Behandlung eine mündliche Aufklärung voraus, hielt Stellpflug fest. Dies stünde einer ausschließlichen Kommunikation „via Tastatur“ entgegen. Nur in einfach gelagerten Fällen könnten Aufklärungsgespräche über Telefon oder Skype erfolgen, ansonsten sei dies jedoch unzureichend. Zudem müssten die Risiken der Datenübermittlung und die Gewährleistung der Datenauthentizität angesprochen werden. Als Lösungen beschrieb der Referent eine „face-to-face-Aufklärung“ im Rahmen eines einmaligen direkten Treffens oder – falls die räumliche Distanz dies nicht zulässt – die Delegation der Aufklärung an einen Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten vor Ort. Hinsichtlich der Diagnosestellung betonte er die für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten geltende Pflicht, sich ein eigenes Bild zu machen. Dafür sei die Berücksichtigung der nonverbalen Kommunikationsanteile erforderlich, was bei rein audiogestützter und rein schriftlicher Kommunikation nicht möglich sei. Lösungen könnten in Einzelfällen spezielle Fragebögen sein und auch hier das einmaliges Treffen vor Beginn der Behandlung oder die Delegation der Diagnosestellung an eine Kollegin oder einen Kollegen vor Ort.
Als derzeit größten Hemmschuh bei der Anwendung mediengestützter Interventionen bezeichnete der Justiziar der BPtK aus seiner Sicht das Haftungsrecht. Generell zeigte er sich überzeugt, dass in der Gesetzgebung für diesen Bereich in nächster Zeit einiges ins Rollen kommen werde.
BPtK-Standpunkt „Internet in der Psychotherapie“
Dr. Alessa Jansen, wissenschaftliche Referentin der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), gab in ihrem Vortrag einen Überblick über das Angebot an digitalen Produkten im Gesundheitswesen, von Smartphone-Apps zur Erstellung eines Stimmungsprotokolls, Internetprogrammen zur Stressbewältigung und Software für die audiovisuelle Kommunikation. Hinsichtlich der Wirksamkeit bestünde eine breite Evidenzlage insbesondere bei Angststörungen und Depression. Internetprogramme ohne therapeutische Unterstützung würden jedoch von den Nutzern häufig abgebrochen. Die Referentin hielt fest, dass mittlerweile auch viele Krankenkassen spezifische Angebote entwickelt hätten. Im Sinne der Patientensicherheit dürften sich jedoch Versicherung und Versorgung nicht vermischen und wirksame Internetprogramme zudem nicht nur ausschließlich den Versicherten einer bestimmten Krankenkasse zur Verfügung stehen. Für die Integration von digitalen Angeboten in die Psychotherapie verwies die Referentin auf die in der Musterberufsordnung angeführten Sorgfaltspflichten als gute Rahmenbedingungen. Chancen in der Anwendung der digitalen Angebote seien beispielsweise die Möglichkeit, Entfernungen zu überbrücken, Barrieren beim Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung abzusenken oder Behandlungserfolge zu stabilisieren.
Schließlich beschrieb Jansen den Standpunkt der BPtK hinsichtlich der Integration von Internetangeboten in die Psychotherapie. Maßgeblich sei der Einsatz von zertifizierten Medizinprodukten, ihre Integration in die Regelversorgung und die Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit. Da die Umsetzung der Rahmenbedingungen einige Zeit in Anspruch nehmen werde, habe die BPtK für die Zwischenzeit eine Checkliste für Patienten und einen Leitfaden für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten entwickelt. Beide Publikationen fassen jeweils wesentliche Informationen zusammen, bieten Orientierung und helfen bei der Beurteilung von Internetprogrammen. Im nächsten Schritt werde sich die BPtK mit dem Thema Videobehandlung befassen, die Notwendigkeit einer Anpassung der Musterberufsordnung diskutieren und die Themen Vergütung, eHealth-Gesetz und Kompetenzerwerb für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auf die Agenda setzen, kündigte die Referentin an.
Diskussion lässt Aufbruchsstimmung erkennen
Die sich den Fachvorträgen anschließende Diskussion spiegelte die Vielschichtigkeit und die Aktualität des Themas. Mehrfach wurde betont, dass man nicht über die ausschließliche Behandlung mit digitalen Anwendungen spreche. Zentrale Anforderungen seien, Anwendungsfelder sowie Vor- und Nachteile zu prüfen und jeweils im Einzelfall zu entscheiden, ob und für wen ein Angebot passen könnte. Einige Kammerversammlungsmitglieder äußerten die Überlegung, dass mit internetgestützten Maßnahmen möglicherweise neue Zielgruppen erreicht werden könnten. Andere gingen eher davon aus, dass vorwiegend Menschen angesprochen werden, die ohnehin eine größere Bereitschaft für Psychotherapie hätten. Positiv wurde gesehen, dass man mit den neuen Möglichkeiten Menschen Angebote machen könne, die zum Beispiel aufgrund körperlicher Einschränkungen einen erschwerten Zugang zu einer unmittelbaren Psychotherapie haben. Als weitere Aspekte wurden unter anderem angesprochen, wie die Nachhaltigkeit von Online-Interventionen zu bewerten ist und dass im Zuge der neuen Entwicklungen die Definition von Psychotherapie berücksichtigt und diskutiert werden müsse. Zentral bleibe dabei die Frage nach der Qualität der Patient-Therapeut-Beziehung.
Deutlich wurde, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sich dem Thema „Internet in der Psychotherapie“ nicht verschließen dürfen. Mehrfach wurde betont, dass die Digitalisierung in der psychotherapeutischen Versorgung bereits an Fahrt aufgenommen habe und es an der Zeit sei, die zentralen Fragestellungen jetzt anzugehen. „Dabei müssen wir eng bei unserem Selbstverständnis und unseren Kompetenzen bleiben und dürfen die Diskussion, was Psychotherapie ist und wie sie angewendet werden kann, nicht andere führen lassen“, betonte Kammerpräsident Gerd Höhner in seinem Schlusswort.