Landespsychiatrieplan NRW – Ziele, Perspektiven, Visionen: Fachtagung am 25. Februar 2016 in der Stadthalle Mülheim an der Ruhr
Im Frühjahr 2015 gab die Landesregierung Nordrhein-Westfalen den Startschuss für die Entwicklung eines Landespsychiatrieplans NRW, der die Versorgung psychisch erkrankter Menschen verbessern soll. Die Kammern und Fachverbände, Leistungsträger und Patientenvertreterinnen und -vertreter sind in den Arbeitsprozess einbezogen. Gesteuert wird das beteiligungsorientierte Verfahren vom Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA). Mit der konstituierenden Sitzung des Lenkungsausschusses im Mai 2015 bildeten sich sechs Unterausschüsse. Vorstandsmitglieder der Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) sind in den Ausschüssen „Patientenzentrierte und sektorenübergreifende Behandlung – Klinik und ambulanter Sektor“, „Psychisch kranke ältere Menschen“ und „Psychisch kranke Kinder und Jugendliche“ beteiligt.
Fachliche Perspektiven entwickeln
Am 25. Februar 2016 folgten rund 300 Akteurinnen und Akteure aus dem Gesundheitswesen der Einladung des MGEPA und kamen zur Fachtagung „Landespsychiatrieplan NRW – Ziele, Perspektiven, Visionen“ in die Stadthalle Mülheim an der Ruhr, um anhand erster Zwischenergebnisse fachliche Perspektiven für weitere Schritte bei der Gestaltung eines Landespsychiatrieplans NRW zu diskutieren.
Staatssekretärin Martina Hoffmann-Badache fasste in ihrer Begrüßung die Ziele eines Landespsychiatrieplans für NRW zusammen. „Wir wollen hin zu einer Regionalisierung, uns sektorenübergreifend ausrichten und Schnittstellen zwischen Behandlung, Rehabilitation und quartiersbezogener Pflege perspektivisch zu Nahtstellen entwickeln. Wir wollen finanzsicher planen, Hilfe sicherstellen, ihre Inanspruchnahme anstoßen und Maßnahmen entlang der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickeln. Bei all dem möchten wir uns an den Lebenswelten der Betroffenen und dem individuellen Bedarf orientieren, die unterschiedlichen Bedarfe von Frauen und Männern sowie von Menschen aus anderen Kulturkreisen im Blick haben und auf Augenhöhe mit denen sprechen, um die es geht. Auch die Minimierung von Zwang ist ein zentrales Anliegen.“ Als unabdingbare Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Ziele nannte Martina Hoffmann-Badache gute Koordination, regionale Steuerung und verbindliche Kooperationen.
Facettenreiche Impulse für NRW
Die Vorträge des Vormittags eröffnete Dr. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses Berlin Weißensee und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. In ihren Ausführungen blickte sie auf die Perspektiven einer sektorübergreifenden, patientenorientierten Behandlung. „Es ist eine dringliche Aufgabe, dass wir uns vernetzen. Auch wenn seit der Psychiatrie-Enquete viel erreicht wurde – es gibt weiterhin zu wenig verbindliche, strukturierte Kooperationen“, betonte sie. Lobende Worte fand Dr. Iris Hauth für die nordrhein-westfälische Lösung, Psychiatrie und Psychosomatik unter ein Dach zu holen. Für eine schnelle und bedarfsgerechte Vermittlung von Hilfebedürftigen skizzierte sie die Idee vom Hausarzt als Lotsen und ambulanter Soziotherapie und ambulanter Pflege als Ergänzung zum Angebot der Psychiater. Als positive Beispiele innovativer Versorgungsformen stellte sie die integrierte Versorgung in Hamburg (Hamburger Modell, gesteuert durch die Universitätsklinik), das NetzWerk Psychische Gesundheit des Dachverbandes der Gemeindepsychiatrie sowie das Netzwerk niedergelassener Nervenärzte in Berlin vor.
Perspektiven für psychisch kranke Kinder und Jugendliche zeigte Prof. Dr. Renate Schepker auf, Chefärztin des ZfP Südwürttemberg Ravensburg-Weissenau. „In Baden-Württemberg haben wir unter anderem die Versorgungsgebiete verkleinert – zuständig für die regionale Pflichtversorgung ist der nächstgelegene Kinder- und Jugendpsychiater an dem Ort, an dem der Hilfebedarf entsteht. Es ist positiv festzustellen, dass über die Vernetzung mit den Niedergelassenen eine gemeinsame Verantwortung in der Region entsteht.“ Für die weitere Verbesserung der Versorgung benannte Prof. Dr. Renate Schepker die Aufgabe, jedem Kind den Zugang zu einem zu ihm passenden Hilfeangebot zu schaffen. Zudem sei mithilfe niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater die Notfallversorgung für diese Patientengruppe zu verbessern. Darüber hinaus gelte es, aufsuchende Behandlungsangebote für Familien zu verstärken und Hometreatment-Ansätze auch für die Versorgung von Kinder- und Jugendlichen auszubauen.
Matthias Rosemann, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde e.V. und Geschäftsführer der Träger gGmbH Berlin Reinickendorf, rief in seinem Vortrag „Integrierte Hilfen und regionale Steuerung – Herausforderungen für die Zukunft“ dazu auf, für eine verbesserte Versorgung psychisch erkrankter Menschen mehr Verbindlichkeit bei allen Beteiligten zu erwirken. Als einen neueren Lösungsansatz stellte er gemeindepsychiatrische Verbünde vor. Zudem betonte Matthias Rosemann: „Mitarbeitende in der alltäglichen Praxis müssen sich einrichtungs- und funktionsübergreifend über die notwendigen Hilfen im Einzelfall verständigen können. Dazu bedürfen sie eines Auftrags ihres Arbeitgebers und eines Auftrags durch das Hilfesystem. Das setzt verbindliche Absprachen und Kooperationsvereinbarungen in den Regionen voraus. Koordinierte Hilfeplanung und -erbringung wird an Bedeutung gewinnen, insbesondere vor dem Hinter-grund der Strategien und Maßnahmen zur Vermeidung von Zwang und Gewalt. Länder, Kommunen, Leistungsträger und Leistungserbringer stehen in der Verantwortung, entsprechende Strukturen zu organisieren. Der nächste Staatenbericht zur Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen müsste beschreiben können, welche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland dazu gestartet wurden. Ein Landespsychiatrieplan ist eine solche Initiative.“
In dem anschließenden Trialog diskutierten Elisabeth Scheunemann, Gesamtkoordinatorin der psychiatrieerfahrenen Mitglieder der Besuchskommission in NRW, Wiebke Schubert, Vorsitzende des Landesverbandes NRW der Angehörigen psychisch Kranker e.V. und Prof. Dr. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum, über Forderungen und Kriterien hinsichtlich einer Behandlung auf Augenhöhe.
Zusammenschau wesentlicher Handlungsempfehlungen
Am Nachmittag erarbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fachtagung in sechs Symposien fachliche Perspektiven für die weiteren Schritte; die Ergebnisse wurden thesenhaft gebündelt auf dem Abschlussplenum vorgestellt.
Zu den Themen Selbsthilfe und Partizipation gehörte der Ruf nach einem Miteinander von Betroffenenkompetenz und professionellem System und der Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen. Zudem seien Selbsthilfe und Selbstversorgung als unterschiedliche Konzepte gleicher Wichtigkeit zu sehen.
Hinsichtlich einer sektorenübergreifenden, patientenorientierten Versorgung wurde als wesentliche Teilbilanz die Notwendigkeit von Umbau statt Ausbau betont. Zudem wurde auf die Bedeutung regionaler Lösungen bei gleichzeitiger Gründung eines gemeindepsychiatrischen Dienstes und generell verbindlicher Absprachen hingewiesen.
Die Diskussion über eine verbesserte Versorgung psychisch kranker älterer Menschen bündelte als Aufforderungen unter anderem, einen niedrigschwelligen Zugang zu Hilfen bereits im Quartier zu erleichtern und Hausärzte zu integrieren. Ebenso wurden ein multidisziplinärer, auch auf Angehörige und das Umfeld ausgerichteter Ansatz sowie adäquate Aus-, Fort- und Weiterbildung gefordert.
Bei der Versorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen wurden settingbezogene und settingübergreifende Ansätze, eine systemische Betrachtung und ambulante, wohnortnahe Hilfen als notwendig hervorgehoben. Auch ein nahtloses Ineinandergreifen von Behandlung und Rehabilitation wurde festgehalten.
Mit Blick auf soziale Teilhabe und Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung wurden unter anderem Hinweise auf personenzentrierte Maßnahmen und die Überwindung der strukturellen Zergliederung auf der Handlungsebene eingespielt. Auch mehr gegenseitige Sensibilisierung der in der Psychiatrie und Somatik Tätigen sei ein wichtiges Ziel.
Zu den Ergebnissen des Symposiums zu den Aspekten Anti-Stigma, Prävention und Gesundheitsförderung zählte vor allem, dass mit Blick auf die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Paradigmenwechsel größer werden müsse. Auch regionale Versorgungssettings sowie mehr und attraktivere Angebote für Adoleszente kamen zur Sprache.
Zum Abschluss der Fachtagung zog Jörg Holke, Leiter des Referats Psychiatrie im MGEPA, eine positive Bilanz. „Wir haben heute zahlreiche Anregungen für einen Landespsychiatrieplan NRW zusammentragen können. Ich danke alle Beteiligten für ihre konstruktiven Beiträge.“