Programmvielfalt und angeregte Diskussionen auf dem 13. Jahreskongress Psychotherapie in Bochum
Der 13. Jahreskongress „Wissenschaft Praxis“, gemeinsam veranstaltet von der Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) und dem Hochschulverbund NRW, bot am 14. und 15. Oktober 2017 erneut ein umfassendes und facettenreiches Programm. Rund 340 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich für den Fachkongress angemeldet. Die rund 50 Workshops behandelten die gesamte Breite der psychotherapeutischen Arbeit bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Themen waren unter anderem „Affektive Störungen“, „Angststörungen“, „Hochbegabung“, „Neuropsychologie“, „Persönlichkeitsstörungen“, „Psychopharmakologie“, „Essstörungen“ und „Schematherapie“.
Für den Eröffnungsvormittag hatten die Veranstalter das Thema „Gewalt: Autoaggression und Fremdaggression in der Psychotherapie“ gewählt. Mit diesem Schwerpunkt griffen sie ein Thema auf, das nahezu alle psychotherapeutisch arbeitenden Menschen betrifft. Prof. Dr. Silvia Schneider von der Fakultät für Psychologie, Arbeitseinheit Klinische Kinder- und Jugendpsychologie der Ruhr-Universität, begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Namen des Hochschulverbundes. Sie betonte die Bedeutung der Themen Gewalt und Gewalteinwirkung in der Forschung und der psychotherapeutischen Praxis und wies auf ihre starke politische Relevanz und mediale Präsenz hin. Gerd Höhner, Präsident der PTK NRW, hielt in seiner Begrüßung fest, dass die Psychotherapeutenkammer als Repräsentanz, aber auch jede Psychotherapeutin und jeder Psychotherapeut aufgefordert seien, zu den gesellschaftlichen Bezügen von Autoaggression und Fremdaggression Stellung zu nehmen. „Die Medien rekurrieren bei aggressiven Verhaltensweisen und Gewalt schnell auf individuelles Versagen und Krankheit“ sagte Gerd Höhner. „Diese große Bereitschaft zu Individualisieren und zu Pathologisieren hat auch damit zu tun, dass man sich dann keine Gedanken mehr darüber machen muss, inwiefern gesellschaftliche Faktoren relevant sind. Doch sie nehmen ganz klar Einfluss. Es ist unsere Aufgabe, sich damit zu befassen und darauf hinzuweisen, dass von Krankheit zu reden manchmal nur bequem ist“.
In der täglichen Arbeit von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten spielen vor allem die Auseinandersetzung mit Suizidgedanken, -plänen und -versuchen und Selbstverletzungen eine Rolle. Wie können sie diese Aspekte ansprechen? Was ist zu beachten, welche Interventionen sind sinnvoll? Ähnliche Fragen stellen sich, wenn sie in ihrer Arbeit mit Fremdaggression konfrontiert werden. Neben mehreren Workshops griffen auch die drei Plenumsvorträge der Eröffnungsveranstaltung diese Fragen auf.
Prof. Dr. Paul Plener, Leitender Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm, erläuterte in seinem Vortrag die Zusammenhänge und Unterschiede von nichtsuizidalem selbstverletzenden Verhalten und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen. Als Ansätze für die Suche nach den Ursachen für ein solches Verhalten erläuterte er das biopsychosoziale Modell, bei dem Umwelt, Verhalten, Biologie, Affekte und Kognitionen eine Rolle spielen, und das Vier-Faktoren-Modell, bei dem die Neurobiologie eine besondere Rolle spielt. Selbstverletzung sei nicht immer „suizidales Verhalten“, es geschehe ohne suizidale Intention, sei aber ein Risikofaktor für Suizidalität. Beide Bereiche seien daher eng miteinander verzahnt, dürften aber in der Klinik nicht vermischt werden. Er beleuchtete mögliche Zusammenhänge mit der Begeisterung für Jugendkulturen wie „Gothic“ und Mobbingerfahrungen von Jugendlichen und definierte Selbstverletzung und suizidales Verhalten als starke Risikofaktoren für psychische Störungen wie Depressionen. Therapeutische Interventionen stellte Prof. Paul Plener als grundsätzlich wirkungsvoll vor, wobei sich keine spezielle Maßnahme als besonders effektiv hervorhebe. Neben Hinweisen zur Prävention von Suizidversuchen informierte der Facharzt abschließend über neue Ansätze bei der Suche nach Vorhersagevariablen, darunter Big Data Analysen und Studien zum Posting-Verhalten von Jugendlichen in sozialen Netzwerken.
„Mythen versus Fakten“ hinsichtlich der Risikoabschätzung möglicherweise vorliegender suizidaler Tendenzen, zur Krisenintervention und der Psychotherapie mit suizidalen Patienten beleuchtete Dr. Tobias Teismann vom Forschungs- und Behandlungszentrum der Ruhr-Universität Bochum. Der Behauptung „Suizide sind vorhersehbar“, stellte der Geschäftsführende Leiter des Zentrums entgegen, dass Studien zufolge Erkenntnisse über suizidale Tendenzen gerade einmal knapp über dem Zufallsniveau liegen würden. Im Rahmen einer Risikobewertung könnten Faktoren wie ein Suizidversuch in der Vorgeschichte zwar Hinweise geben. Sie müssten aber stets in einem Geflecht mit vielen weiteren Aspekten betrachtet werden. Auf der Basis von Studienergebnissen widerlegte der Psychologe und Psychotherapeut auch die Annahme, dass suizidale Menschen nicht von Zukunftsplänen berichten. Vielmehr würden sie stark zwischen verschiedenen Zuständen schwanken. Deutlich wurde auch hier, dass man sich bei der Beurteilung eines Suizidrisikos nicht zu sehr von einzelnen Markern lenken lassen dürfte. Des Weiteren widerlegte Dr. Tobias Teismann den Mythos, dass durch die Nachfrage nach Suizidgedanken jemand überhaupt erst auf die Idee käme, sich umzubringen. Ebenso wenig haltbar sei die Ansicht „Wer sich wirklich umbringen will, ist nicht aufzuhalten.“ Vielmehr könnten bereits kleine Interventionen viel bewirken. Nicht belegt sei, dass eine Depressionsbehandlung im Anschluss an die Krisenintervention einen Einfluss auf die Suizidalität hat.
In dem dritten Vortrag am Eröffnungsvormittag widmete sich Prof. Dr. Heather Foran von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt der Frage „Gewalt in der Familie: Ein vernachlässigtes Public Health Problem?“. Die Leiterin der Abteilung für Gesundheitspsychologie des Instituts für Psychologie der Hochschule beschrieb die Haupttypen von Gewalt in der Familie und die psychischen und physischen Auswirkungen von familiärer Gewalt und Kindesmisshandlungen. Als eine drängende Aufgabe definierte sie, die Forschung zu diesem Themengebiet voranzutreiben und dabei zu präzisieren, welche Aspekte besonders in den Fokus rücken sollten. Ebenso sprach die Psychologin von der Notwendigkeit, Präventionsprogramme aufzusetzen und Eltern darüber aufzuklären, welche Verhaltensweisen als psychische Gewalt zu verstehen sind – nicht immer sei ihnen die psychische Wirkung und die Tragweite mancher Verhaltensweisen bewusst. Ebenso gelte es Ansätze für die Aufklärung von und die Arbeit mit Kindern zu entwickeln. Als weitere wichtige Aufgabe führte Prof. Dr. Heather Foran an, einen Konsens hinsichtlich der Definitionen und Benennungen der relevanten Ziffern in den Klassifikationssystemen ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und DSM (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorder) zu finden, um die wissenschaftliche Basis für kollegiale Verständigung über entsprechende Probleme und ihre Berücksichtigung im therapeutischen Prozess zu verbessern. Schließlich sei es ratsam, Screenings in Bezug auf mögliche Gewalterfahrungen im familiären Kontext zu etablieren.
In den folgenden eineinhalb Tagen bestimmten gut besuchte Workshops und ein reger Austausch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer untereinander den Verlauf des 13. Jahreskongresses „Wissenschaft Praxis“.