Psychiatrie im Wandel Veranstaltung der PTK NRW in Dortmund
Die psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäuser stehen in den nächsten Jahren vor erheblichen Herausforderungen. Dazu gehören eine bessere sektorübergreifende Versorgung von psychisch kranken Menschen und die Einführung eines neuen Finanzierungssystems, das „Gleiches Geld für gleiche Leistung“ realisieren will. „Psychiatrie im Wandel“ war deshalb das Thema einer Veranstaltung der Psychotherapeutenkammer NRW mit knapp 100 Teilnehmern am 4. September 2013 in Dortmund.
Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW, wies in ihrem Grußwort darauf hin, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung gerade einen neuen Krankenhausrahmenplan beschlossen habe, der einen erheblichen Abbau von Betten in somatischen Krankenhäusern, aber einen Zuwachs in Psychiatrie und Psychosomatik vorsehe. Die Kammer habe zu den Planungen des NRW-Gesundheitsministeriums im März ausführlich Stellung genommen. Aus Sicht der Kammer ist die steigende Inanspruchnahme von stationären Behandlungsplätzen darauf zurückzuführen, dass im ambulanten Bereich von einem Systemversagen gesprochen werden muss. Niedergelassene Psychotherapeuten seien für psychisch Kranke nicht schnell und flexibel genug erreichbar. Präsidentin Konitzer hob hervor, dass 2011 in NRW über 1.000 Psychologische Psychotherapeuten (PP) und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken tätig waren. Damit spielten die Psychotherapeuten dort trotz erheblicher systembedingter Hürden inzwischen eine fast gleichbedeutende Rolle wie die dort tätigen 1.300 Ärzte. Um die Rolle der Krankenhäuser in der Versorgung psychisch kranker Menschen kontrovers zu diskutieren, habe die Kammer zu dieser Veranstaltung eingeladen.
Einführend stellte Wolfgang Heiler, Psychologischer Psychotherapeut, Leitender Psychologe an der Psychiatrischen Institutsambulanz Marsberg des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), die Anforderungen an eine bedarfsgerechte Versorgung von psychisch kranken Menschen, aus der Sicht des LWL als ein Krankenhausträger, dar. Der Anstieg der diagnostizierten psychischen Erkrankungen führe zu einem höheren „Patientenaufkommen“ in der stationären Behandlung. Die Patienten erwartet dort quantitativ und qualitativ mehr Psychotherapie als bisher. Die Zeit, die ein Patient je Aufnahme im psychiatrischen Krankenhaus sei, habe sich von durchschnittlich 65 Tagen 1991 auf 23 Tage 2008 verringert. Dies habe zu einer Verringerung der Betten in psychiatrischen Krankenhäusern geführt. Trotz einer positiven Entwicklung in der ambulant komplementären Versorgung sei aber die Wiederaufnahmerate in den Kliniken deutlich angestiegen. Chronisch und langfristig kranke Menschen bräuchten kontinuierliche, koordinierte und sektorenübergreifende Hilfen.
In Zukunft drohe auch in psychiatrischen Krankenhäusern ein Ärztemangel, so Heiler. Ferner werde von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie wenig Psychotherapie angeboten bzw. geleistet (andere Tätigkeitsschwerpunkte/Leitungsfunktionen). Dies führe zu einer steigenden Bedeutung psychotherapeutischer Kompetenzen in den Kliniken.
Aufgrund fehlender Aufstiegschancen, innerer Kündigung und Nischendasein gebe es allerdings eine große Unzufriedenheit bei den Psychologen in psychiatrischen Krankenhäusern. Der LWL beabsichtige deshalb:
- Verbesserung der Kooperation der therapeutischen Berufsgruppen (einschließlich Einbindung der Krankenpflege als Co-Therapeuten),
- Ausdifferenzierung der Kompetenz- und Verantwortungsbereiche für Psychologen,
- tarifliche Eingruppierung entsprechend der Qualifikation und Verantwortung/Leitungsfunktion,
- Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit und Attraktivität des LWL als Arbeitgeber (für alle Berufsgruppen, insbesondere für Ärzte und Psychologen).
Mittelfristig sei eine Angleichung der Kompetenzbereiche und Hierarchiestufen von Ärzten und Psychologen auf der Grundlage der Tarifverträge (TVöD und TV-Ärzte) geplant. Dazu gehöre die Einführung eines 3-Stufenmodells mit differenzierter Aufgaben- und Kompetenzzuweisung für „psychotherapie-dominante“ Handlungsfelder/Stationen im psychiatrischen Krankenhaus. Die Position des Chefarztes/Ärztlichen Direktors bleibe dabei aber noch Ärzten vorbehalten. Hermann Schürmann, Vize-Präsident der PTK-NRW stellte klar, dass nach § 31 Abs. 2 Krankenhausgestaltungsgesetz in NRW schon jetzt eine Abteilungsleitung („neben einem Arzt“) für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten möglich sei.
Dr. Tina Wessels, wissenschaftliche Referentin der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), erläuterte das neue Finanzsystem, das in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken gerade eingeführt wird. Nach Krankenhausgesetz KHG § 17d ist in Krankenhäusern für psychisch kranke Menschen ein Vergütungssystem mit tagesbezogenen Pauschalen vorgesehen, das kurz PEPP genannt werde („Pauschalierendes Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik“). Dafür ermittele, so Wessels, das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), wie groß der Aufwand sei, den die Krankenhäuser je Patient und Diagnose haben. Dabei würden alle Krankenhauskosten berücksichtigt, also die Kosten für die unmittelbaren Behandlungsleistungen, die stationären Betreuungskosten („Grundrauschen“) und die Kosten für die Infrastruktur. Der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) diene dabei dazu, Leistungen zu erfassen, die über ein Mindestmaß in der jeweiligen Behandlungsart hinausgehen. Dadurch ließen sich Patientengruppen erkennen, die besonders aufwendige Leistungen benötigten. Diesen Gruppen könnten dann höhere Entgelte zugeordnet werden. Alle „affektiven, neurotischen, Belastungs-, somatoforme oder Schlafstörungen“ bildeten derzeit z.B. eine „Basis-PEPP“. Die mittleren Tageskosten dieser Diagnosekategorie betragen z.B, rund 260 €. Je nach Schweregrad (Behandlungsaufwand, OPS) wird dieser Basis-PEPP mit einem Faktor („Bewertungsrelation“) multipliziert (z.B. 1,XX), so dass die Krankenhäuser für Patienten mit besonders aufwendigen Behandlungen höhere Tagespauschalen erhalten. Die Bewertungsrelation kann auch kleiner als 1 ausfallen, weil die Kosten mit der Verweildauer sinken, so dass sich auch die Tagespauschalen verringern.
Die Hauptkritikpunkte am neuen PEPP, so Wessels, seien insbesondere, dass einzelne Leistungen bisher kaum eine Rolle für die Eingruppierung der Patienten spielten und dass die Höhe der Tagespauschalen mit der Länge des Krankenhausaufenthaltes abnähme. Diese degressive Vergütung sei jedoch das Ergebnis der realen Kostenverläufe in den psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäuser, die sich bereits am neuen PEPP-Entgeltsystem beteiligen („Kalkulationshäuser“). Es bestehe also für die Kliniken kein Anreiz, die Patienten früher zu entlassen, weil die Pauschalen nicht mehr die Kosten deckten, sondern die Kosten nähmen tatsächlich mit der Dauer des Aufenthaltes ab.Im PEPP 2014 gebe es voraussichtlich eine stärkere Differenzierung innerhalb der Basis-PEPPs. So werde es eine Sucht-PEPP geben, nach hoher Therapieintensität differenziert und die degressiven Entgelte würden auch in der Psychosomatik eingeführt.
Vizepräsident Hermann Schürmann stellte danach die ersten Ergebnisse für NRW der im Februar/März 2013 bundesweit durchgeführten Online-Befragung von angestellten Mitgliedern der Psychotherapeutenkammern durch die BPtK vor. Es wurden unter anderem Informationen zur beruflichen Position, zur Rolle in der Organisation und zu den Arbeitsaufgaben erhoben.
Nach den ersten Ergebnissen haben sich von den rund 3.500 angeschriebenen Angestellten knapp 1.000 beteiligt, was einer Rücklaufquote von fast 30 Prozent entspricht. Von diesen knapp 1.000 Antwortenden sind 70 Prozent als PP, 25 Prozent als KJP und 5 Prozent doppelt approbiert. 30 Prozent (n=272) üben zusätzlich zur Anstellung eine selbstständige Tätigkeit, meist eine ambulante psychotherapeutische Tätigkeit (n=160), aus. Auch die Kombination von angestellter und vertragspsychotherapeutischer Tätigkeit kommt regelmäßig vor (n=43). Häufigster Arbeitsplatz der angestellten Kolleginnen und Kollegen ist das Krankenhaus (40 %), gefolgt von einer Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeitsfelder in der Jugendhilfe, Rehabilitation, Beratungsstellen und Anstellung in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ).
50 Prozent gehen ihrer angestellten Tätigkeit in Vollzeit (> 35 Std.) nach. Bei den Männern sind ca. 70 Prozent vollzeitbeschäftigt, bei den Frauen 40 Prozent. Trotz Approbation ist die Mehrheit der angestellten Psychotherapeuten (56,6 %) in ihrem Grundberuf, meist als Diplom-Psychologe/in eingestellt, bei nur jedem Dritten (29,1 %) steht die Approbation als PP oder KJP auch im Arbeitsvertrag. Bei den PP in Vollzeit-Anstellung erzielen rund 50 Prozent und bei den KJP bei voller Arbeitszeit knapp 15 Prozent ein Einkommen von mehr als 60.000 EUR. Über 80 Prozent der Kolleginnen und Kollegen stimmen „voll“ oder „eher“ der Aussage zu: „Ich bin mit meiner Arbeit zufrieden.“
In der abschließenden Diskussion wurde einerseits betont, dass das neue PEPP-System eine große Chance sei, die Vergütung am tatsächlichen Behandlungsaufwand zu orientieren. Die derzeitige Vergütung (von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedliche, tagesgleiche Pflegesätze) orientiere sich nicht am Behandlungsaufwand oder am Bedarf des Patienten. Es komme so zu Fehlanreizen, Hemmnissen bei der Weiterentwicklung der Versorgungsangebote und bei der personellen Ausstattung von Abteilungen. Der wachsende Ärztemangel in Psychiatrie und Psychosomatik böte die Möglichkeit für PP und KJP ihr Aufgabenspektrum zu erweitern und mehr Verantwortung zu übernehmen.
Anderseits wurde die Sorge geäußert, ob es richtig sei, die bisherige Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) abzuschaffen. Die Gewerkschaft ver.di habe sich jetzt sehr spät dagegen ausgesprochen. Vizepräsident Hermann Schürmann warnte jedoch vor einer „Idealisierung der PsychPV“. Die Psych-PV sei eine Kalkulationsgrundlage für Pflegesätze aus dem Jahr 1990 und nicht mehr zeitgerecht. Zudem kämen dort die Berufsgruppen Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut gar nicht vor. Wichtig sei es, eine patienten- und bedarfsgerechte Versorgung für psychisch kranke Menschen zu schaffen, in der die Psychotherapie den Stellenwert bekomme, den sie bereits in Leitlinien habe. Qualität müsse sich zukünftig auch für psychiatrische und psychosomatische Kliniken auszahlen und für eine qualitativ hochwertige Versorgung benötige man Personal und Zeit.