Psychotherapie trifft Sucht Eine Tagung der PTK-NRW und der LPK Rheinland-Pfalz
Psychotherapie ist die Kerndisziplin der Suchtbehandlung und die zentrale Leistung der Sucht-Rehabilitation. Patientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass sie die ihnen zustehende Qualität psychotherapeutischer Leistungen auch erhalten. Einrichtungen und Kostenträger stehen in der Verantwortung, die erforderlichen personellen Strukturen zu schaffen und zu finanzieren. Psychotherapeuten gewährleisten psychotherapeutische Behandlung unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Standards. Suchterkrankte im Jahr 2013 dürfen keine schlechtere Lobby haben und anders behandelt werden als z.B. Patientinnen und Patienten in der psychosomatischen Rehabilitation. Das waren die zentralen Botschaften der gemeinsamen Veranstaltung der Psychotherapeutenkammer NRW und der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz mit 120 Teilnehmern am 14.11. in Köln. Die Veranstaltung war durch die gemeinsame Fachkommission beider Kammern vorbereitet worden.
Marlis Bredehorst, Staatssekretärin im NRW-Gesundheitsministerium, hob in ihrem schriftlichen Grußwort hervor, dass Psychotherapie zunehmend auch Eingang in die Suchtkrankenbehandlung finde. „Da an Entstehung und Verlauf von Abhängigkeitserkrankungen eine Vielzahl unterschiedlicher, insbesondere auch psychosozialer Faktoren beteiligt ist, ist ein ganzheitlicher lebensweltorientierter Präventions- und Hilfeansatz unverzichtbar. Zudem weisen Abhängigkeitskranke nicht selten weitere psychische Störungen auf. Hier ist ein multidisziplinärer Ansatz in den verschiedenen Behandlungsphasen besonders wichtig“, so die Staatssekretärin.
NRW-Präsidentin Monika Konitzer wies darauf hin, dass Suchterkrankungen zu den unterschätzten Erkrankungen des deutschen Gesundheitssystems gehören. So verkürzten Alkoholerkrankungen die Lebenszeit drastisch – alkoholabhängige Frauen würden im Durchschnitt bis zu 22 Jahre früher versterben (John et al. 2013). Der neueste AOK-Report 2013 habe außerdem gezeigt, dass Alkoholabhängigkeit zu steigenden Fehlzeiten in den Unternehmen führe und Alkohol- und Tabakabhängigkeit die deutsche Wirtschaft mit 60 Mrd. € pro Jahr belaste. „Bei körperlichen Erkrankungen würden solche Zahlen erheblich mehr gesellschaftliche und gesundheitspolitische Unruhe auslösen“, kritisierte Konitzer.
Suchterkrankungen seien weit verbreitete psychische Störungen mit komplexem Behandlungsbedarf und gingen häufig mit komorbiden psychischen Erkrankungen einher, so Konitzer. Die Psychotherapeutenkammer NRW habe deshalb Suchterkrankungen seit Jahren immer wieder zu einem zentralen Thema von Veranstaltungen gemacht. 2008 habe die BPtK die erste gemeinsame Tagung mit dem Fachverband Sucht durchgeführt. Als direkte Folge sei es zur Änderung der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2011 gekommen, die endlich auch eine ambulante Therapie von Patienten mit Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit ermögliche, ohne dass dafür schon eine Abstinenz vorliegen müsse. 2009 beschäftigte sich auch der 5. Jahreskongress Psychotherapie in Bochum mit „Psychotherapie bei Sucht“.
Präsidentin Konitzer stellte fest, dass Psychotherapeuten in der Suchtbehandlung dringend gebraucht würden, und forderte, sie in der stationären Suchtbehandlung und -rehabilitation stärker entsprechend ihrer Qualifikation einzusetzen. Dazu gehöre insbesondere die vertiefte Diagnostik/Indikationsstellung, die psychotherapeutische Behandlung (Einzel- und Gruppensetting), Kriseninterventionen, sozialmedizinische Beurteilungen und die Leitung des psychologisch/psychotherapeutischen Dienstes. Um die Suchtbehandlung zu einem attraktiven Berufsfeld zu machen, müssten für Psychotherapeuten auch ausgewiesene Weiterentwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden sein, insbesondere auch Möglichkeit in das Leitungsteam eingebunden zu werden. Psychotherapeuten seien schon heute wesentlich an der konzeptionellen Entwicklung der Behandlung beteiligt. Sie seien zur Absicherung einer hohen Qualität im System explizit zu verorten. Das müsse in den Strukturanforderungen verankert sein.
Prof. Dr. Harald Rau, Vorstandsvorsitzender der diakonischen Einrichtungen „Die Zieglerschen“, stellte in seinem einführenden Vortrag fest, dass alkoholabhängige Menschen bisher vor allem niedergelassene Ärzte (75-85 Prozent) und Allgemeinkrankenhäuser (30-35 Prozent) aufsuchen. Dabei seien insbesondere niedergelassene Psychotherapeuten qualifiziert, eine Abhängigkeitserkrankung zu diagnostizieren und zu behandeln. Sie könnten insbesondere eine Motivation zur Einstellungs- und Verhaltensänderung gegenüber Suchtmitteln schaffen. Zu einem „qualifizierten Entzug“ gehöre unbedingt, diese Motivation für eine Veränderung zu entwickeln. Dazu brauche es sensible Ansätze in der Kommunikation. Mit Vorwürfen, Drohungen, Misstrauen und ungefragten Ratschlägen ließen sich Suchtkranke dagegen nicht motivieren. Rau erläuterte, dass akute Krankheitsmodelle nicht auf chronische übertragbar seien. Gerade für chronische Erkrankungen, zu denen die Suchterkrankungen gehörten, gelte: „Je chronischer, desto psychologischer.“
Dr. Johannes Lindenmeyer, Direktor der salus Klinik in Lindow, berichtete, dass sich die stationäre Behandlung von Suchtkranken in den vergangenen Jahren erheblich verändert habe. Die Patienten seien schwerer belastet, sie würden kürzer behandelt, erhielten differenziertere Angebote. Die Anforderungen an Dokumentation und Qualitätssicherung seien gewachsen, so dass weniger Zeit für die therapeutische Arbeit mit dem Patienten zur Verfügung stehe. Lindenmeyer schilderte, wie er das Behandlungsprocedere in Lindow verändert habe, um die Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient zu stärken. Bei der Aufnahme erfolgen die Begrüßung und das Aufnahmegespräch unmittelbar durch den Bezugstherapeuten, der den neuen Patienten auch auf die Station begleite. Erst dann erfolgten medizinische Untersuchung und der Kontakt zur Verwaltung. Es gelte die Maxime: möglichst viel Zeit für Therapie und möglich wenig Zeit für Büroarbeit und Teamsitzungen. Auch Erstgespräch, Einzel- und Gruppengespräche seien so strukturiert worden, dass sie besser dem therapeutischen Prozess dienten. Um die Rolle des Psychotherapeuten zu profilieren, gehörten zur Stellenbeschreibung des Psychologischen Psychotherapeuten auch Wochenendseminare und Dienste. Abschließend stellte Lindenmeyer vor, wie die salus Klinik in Lindow in drei Jahren zum Psychologischen Psychotherapeuten ausbildet, wobei die Klinik alle Ausbildungskosten (außer Selbsterfahrung) übernehme und der Berufsanfänger eine Vergütung von 2.180 Euro erhalte.
Dr. Arthur Günthner, Leitender Medizinaldirektor der Deutschen Rentenversicherung Rheinland-Pfalz, erläuterte, dass sich die Notwendigkeit von Therapieleistungen aus dem gesetzlichen Auftrag der Rentenversicherung ergebe. Darin sei das Ziel formuliert, die Teilhabe am Arbeitsleben dauerhaft zu sichern. In der medizinischen Rehabilitation bedeute dies, Abstinenz zu erreichen und zu erhalten, körperliche und seelische Störungen weitgehend zu beheben oder auszugleichen und die Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft dauerhaft zu erhalten oder zu erreichen. Die rehabilitativen Strategien fokussierten dabei auf Therapien, deren Wirkung wissenschaftlich untermauert sei. Der Anteil der Rehabilitanden, die z.B. bei Alkoholabhängigkeit allgemeine Psychotherapie erhielten, habe sich von 42 Prozent (2008) auf 73 Prozent (2011) deutlich erhöht.
Die Frage, wie viel Psychotherapie die Suchtrehabilitation brauche sei komplex und nicht ganz einfach zu beantworten, so Günthner. Dem Behandlungskonzept der Suchtrehabilitation liege ein bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis zugrunde. Psychotherapie sei ein Kernelement. Natürlich orientiere man sich an wissenschaftlichen Standards. Diese seien aber immer auch Ergebnis eines Konsens. Auch die Strukturanforderungen der DRV seien konsentiert, in Gremien abgestimmt. Es sei sinnvoll, bestehende Strukturen zu hinterfragen und über Veränderungen nachzudenken. Dabei müsse man sich aber die historische Dimension der heutigen Gegebenheiten klar machen, evidenzbasiert belegen und konsentieren sowie den rechtlichen Rahmen, auch Haftungsfragen, berücksichtigen.
Ralph Schneider, Vorstandsvorsitzender des Fachverbandes Sucht, kritisierte, dass Suchtpatienten von der Mehrheit der niedergelassenen Psychotherapeuten nicht favorisiert würden. Das habe verschiedene Gründe. Suchtpatienten verstärkten den Behandler weniger für sein Tun, sie würden eine Behandlung ab und zu abbrechen, seien verschlossener im Austausch. Deshalb blieben spezialisierte Reha-Einrichtungen die Hauptanlaufstelle für Süchtige. Hier könne man drüber nachdenken, auch Entzugsbehandlungen in entsprechend qualifizierten Fachkliniken zu ermöglichen. Nach den Reha-Therapiestandards sollten zwar mindestens 90 Prozent der Alkoholabhängigen eine allgemeine Psychotherapie erhalten, praktisch benötige aber jeder Rehabilitand eine Psychotherapie. Auch dürfe man nicht vergessen, dass ein erheblicher Anteil der Suchtkranken einen Ausweg aus der Sucht auch ohne jede therapeutische Unterstützung fände. Psychotherapeutische Leistungen im Indikationsbereich Sucht könnten nur von entsprechend qualifizierten Berufsgruppen erbracht werden. Es müsse mehr Psychotherapie mit hohen Evidenzgrad durchgeführt werden. RCT-Studien der Pharmaforschung ließen ansonsten die Psychotherapie als nachrangige Behandlung erscheinen. Daher müsse die konsequente praxisnahe Versorgungsforschung gefördert werden. Zudem müsse die Finanzierung zukunftssicher gestaltet werden: „Qualität muss sich lohnen!“
Dr. Bernd Wessel, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes für stationäre Suchthilfe, stellte fest, dass die stationäre Entwöhnungsbehandlung oft die erste Therapieerfahrung von Alkoholkranken sei. Die Indikation für eine Psychotherapie ergebe sich oft aufgrund von komorbiden Störungen. Nach der Entwöhnung seien ggf. Psychotherapie, niederfrequente Suchtberatung oder suchtpsychiatrische Behandlung zu kombinieren. Durch die langen Wartezeiten und eine Zurückhaltung der niedergelassenen Psychotherapeuten, auch abstinente Suchtpatienten aufzunehmen, sei eine ambulante Psychotherapie als Anschlussbehandlung nach der stationären Behandlung jedoch häufig nicht zu gewährleisten, obwohl sie gut planbar wäre. Denn nach einer stationären Rehabilitation stünden Patienten über acht Wochen noch ambulante Kontakte im Rahmen der Rehabilitation zur Verfügung, die man zur Überleitung gut nutzen könnte. Wessel appellierte, die Schnittstellen zu Verbindungsstellen zu machen. Hürden müssten abgebaut werden und Psychotherapie und Suchttherapie in alle Richtungen kombiniert werden.
Günter Garbrecht, SPD-Abgeordneter des Landtags NRW und Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, bewertete die Suchtbehandlung aus Sicht der Politik. Die Dimension der Suchtproblematik sei unverändert groß. In Nordrhein-Westfalen liege der Anteil abhängigkeitskranker Menschen bei 20 bis 25 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Obwohl Sucht also weit verbreitet sei, würde insbesondere der Konsum von legalen Suchtstoffen oftmals verkannt und verdrängt. Sucht bilde häufig nur die Spitze des Eisbergs. Bei bis zu einem Drittel der alkoholabhängigen Männer und bei bis zu zwei Dritteln der abhängigen Frauen kämen psychische Störungen vor (z.B. depressive Syndrome, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen etc.). Abhängigkeitserkrankungen seien schwere chronische Krankheiten. Gesundheitliche Beeinträchtigungen und vorzeitige Sterblichkeit seien häufig die Konsequenz.
In Nordrhein-Westfalen sei in den letzten Jahrzehnten ein differenziertes Suchtpräventions- und -hilfesystem aufgebaut worden, das entsprechend den jeweiligen regionalen bzw. örtlichen Strukturen von Angeboten zur suchtspezifischen Gesundheitsförderung und Prävention über niedrigschwellige Maßnahmen der Gesundheits- und Überlebenshilfe, die substitutionsgestützte Behandlung, den qualifizierten Entzug bis zu Angeboten zur sozialen und beruflichen Rehabilitation und Nachsorge reiche. Garbrecht merkte an, dass sich niedergelassene Psychotherapeuten bisher zu wenig der Behandlung von Suchtkranken zugewendet haben und oftmals nicht in die regionalen Strukturen eingebunden seien. „Wenn die Bereitschaft da ist, sich in solchen Netzwerken einzubringen, heiße ich Sie herzlich willkommen!“ Bisher hätten sich niedergelassene Psychotherapeuten in der Praxis nicht der Behandlung von Suchterkrankten zugewendet. Das sei auch daran ablesbar, dass sich unter den 20 häufigsten Diagnosen bei niedergelassenen Psychotherapeuten nicht eine substanzbedingte Störung finden lasse.
In der abschließenden Diskussion stellte NRW-Präsidentin Monika Konitzer fest, dass die Orientierung an Qualität der richtige Weg sei. Psychotherapie müsse durch approbierte Psychotherapeuten geleistet werden. Dies sei eine Verpflichtung. Patienten müssten davon ausgehen können, dass das Versorgungssystem – unabhängig vom Setting – die gleichwertige Qualifikation der Behandler sichere. Dieses gelte für den ärztlichen und psychotherapeutischen Bereich gleichermaßen. Niemand wolle eine „ärztlich orientierte“ Behandlung anstelle einer ärztlichen Behandlung - das sei nicht zu verantworten. Dann könnte aber auch nicht eine „psychotherapeutisch orientierte Behandlung“ für Abhängigkeitserkrankte ausreichen. Gleiches gelte für die Psychotherapie. Psychotherapeuten sollten und wollten sich aktiv ins Versorgungssystem einbringen. Dieses müsse man ihnen aber auch ermöglichen, so Konitzer. Dafür sei es z.B. auch notwendig, dass Psychotherapeuten in NRW im Krankenhausgestaltungsgesetz als unmittelbar Beteiligte an der Krankenhausversorgung gelten müssten. So könnten sie ihre Expertise einbringen und die Qualitätsoffensive in den Krankenhäusern voran bringen. Dadurch ließe sich auch eine Brücke über die Sektorengrenzen hinweg bauen. Andere Tagungsteilnehmer wiesen darauf hin, dass Psychotherapeuten noch gar nicht in den ambulanten Versorgungsstatistiken zu Suchterkrankungen auftauchen könnten, weil erst seit 2011 eine Behandlung möglich sei, ohne dass der Patient schon abstinent sein müsse. Weiterhin seien Psychotherapeuten zu enge Handlungsspielräume – insbesondere in der Suchtbehandlung – gesetzt worden. Ferner sei die Unzuverlässigkeit von Suchtkranken ein Klischee. Die tatsächliche Erfahrung mit Suchtpatienten zeige, dass sie pünktlich zu ihren Terminen erschienen und somit eine kontinuierliche, verlässliche psychotherapeutische Arbeit möglich sei.