PTK-Fortbildung „Risiken und Ressourcen bei der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen“
Mit der Veranstaltung „Psychotherapie mit Flüchtlingen – Risiken und Ressourcen bei der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen“ fand am 5. Dezember 2015 die erste von derzeit vier geplanten Fortbildungen der Psychotherapeutenkammer NRW zu diesem Thema statt. Als Referenten hatte die Kammer den türkisch-/deutschsprachigen Diplom-Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten Dr. Ali Kemal Gün gewinnen können. „Ich werde immer wieder gefragt, ob eine Psychotherapie bei sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschieden überhaupt erfolgreich sein kann, ob Therapeuten ihre Patienten verstehen und Patienten sich dem Therapeuten öffnen können“, so die eröffnenden Worte Dr. Ali Kemal Güns, Integrationsbeauftragter der LVR-Klinik Köln. „Meine Antwort ist ein klares ‚Ja’. Natürlich gibt es Besonderheiten. Vor allem aber sind auch in einem solchen Setting unsere grundsätzlichen therapeutischen Fähigkeiten gefragt: Es geht darum, in einer Atmosphäre der Offenheit, Achtung, Anerkennung, Wertschätzung und Neugierde eine zufriedenstellende und tragfähige Beziehung und Kommunikation herzustellen. Wer das kann, ist in der Lage, mit psychisch belasteten Flüchtlingen zu arbeiten.“
Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, begrüßte die 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort und betonte die Notwendigkeit, Hilfen auch für die Helfer von Flüchtlingen zu etablieren. Die Erwartungen und Fragen, die einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingangs vorstellten, reflektierten die Unsicherheiten, die hinsichtlich der Psychotherapie mit Flüchtlingen bestehen, und die große Bandbreite des Themas. „Ich wurde von einer Organisation angesprochen, ob ich Psychotherapie für Flüchtlinge aus Syrien anbieten könnte“, berichtete eine niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin. „Ich war jedoch unsicher, da ich weder Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen aus diesem Kulturkreis noch in der Therapie mit Dolmetschern habe.“ Eine andere Teilnehmerin stellte ihren Wunsch nach Informationen zum Rollenverständnis von Mann und Frau in muslimisch geprägten Kulturen vor und was dies für die psychotherapeutische Arbeit bedeutet. Auch der Umgang mit Glaube und Religion oder das Verständnis von psychischen Krankheiten und Störungen in anderen Kulturen wurden angesprochen.
Hintergrundwissen zu Migration und Gesundheit
In seiner Einführung gab Dr. Ali Kemal Gün zunächst eine Übersicht über Flüchtlingszahlen und Hauptherkunftsländer, Fluchtgründe und -phasen sowie mögliche Folgen, die sich daraus für die Menschen und für ein therapeutisches Setting ergeben können. Eindringlich stellte er dar, dass ein Land bzw. eine Nationalität viele verschiedene Ethnien, Sprachen und Kulturen umfassen und es innerhalb eines Landes große Unterschiede geben könne. Umso wichtiger sei es, nicht zu generalisieren und im individuellen Fall Informationen über die biographischen Hintergründe und die Erfahrungswelten eines Klienten oder einer Klientin zu erheben und zu berücksichtigen.
Anhand verschiedener Statistiken verdeutlichte der Referent, dass Menschen mit Migrationshintergrund in vieler Hinsicht stärker von gesundheitlichen Belastungen betroffen sind als andere Bevölkerungsgruppen – Erwachsene ebenso wie Kinder und Jugendliche. Als migrationsbedingte Stressfaktoren, die zu gesundheitlichen Belastungen führen und eine „Flucht in die Krankheit“ als psychotraumatische Antwort erscheinen lassen können, definierte Dr. Ali Kemal Gün unter anderem Trennungs- und Entwurzelungserlebnisse, Verlust von haltgebenden Werten, Verständigungsprobleme, Unsicherheiten und Zukunftsängste. „Auch Identitätsprobleme und ein Verlust von Selbstwertgefühl können eine Rolle spielen“, gab der Psychologische Psychotherapeut ein weiteres Beispiel. „Vielleicht war jemand in seiner Heimat für seine Kompetenzen angesehen und hatte einen besonderen Status inne – hierzulande hingegen tut er sich schwer, seine alltäglichen Probleme zu bewältigen, zum Beispiel sich im öffentlichen Personennahverkehr zurechtzufinden.“
Krankheitserleben im orientalischen Kulturkreis
Im weiteren Verlauf der Fortbildung befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit kulturspezifischen Normen- und Wertesystemen, religiösen Einflüssen, Aspekten der Psychotherapie in interkulturellen Überschneidungssituationen, interkulturellen Kompetenzen für die therapeutische Arbeit mit Menschen anderer Kulturen und Besonderheiten in der Psychotherapie mit islamisch sozialisierten Menschen.
Anschaulich erläuterte Dr. Ali Kemal Gün grundlegende Unterschiede im Erleben, Verstehen und in der Bewältigung von Krankheit in Orient und Okzident. Auch Schmerzempfinden und Schmerzausdruck seien kulturell unterschiedlich. „Nach orientalischem Verständnis ist der Körper ein Ganzes und Patienten erleben Krankheiten als Ganzheit“, erläuterte der Psychotherapeut. „Man geht zum Arzt und sagt ihm, dass man krank ist. Der Arzt hat dann die Aufgabe, die Ursache herauszufinden. Hierzulande erwarten viele Ärzte eher eine differenzierte Beschreibung ihrer Patienten, wie sie sich fühlen und wo der Schmerz lokalisiert ist.“ Ein weiterer beachtenswerter Punkt für die Zusammenarbeit sei die deutlich passivere Rolle eines Patienten gegenüber der „Autorität“ Arzt oder Psychotherapeut: Orientalisch-islamisch geprägte Menschen würden Krankheit häufig auf traditionell magisch-religiöse Art und Weise verstehen und hätten dementsprechende Behandlungs- und Heilungsvorstellungen, die in das therapeutische Setting einfließen.
Kommunikation, Missverständnis und Verständnis
Des Weiteren erläuterte Dr. Ali Kemal Gün die kollektivistische Prägung orientalischer Gesellschaften. „Es ist nicht selbstverständlich, mit Außenstehenden über interne Angelegenheiten der Familie zu reden, auch wenn es sich dabei um Ärzte oder Therapeuten handelt. Oft ist es schambesetzt, über belastende Themen und Erlebnisse offen zu sprechen.“ Praxisnah demonstrierte er Fragetechniken und Herangehensweisen, die entsprechend geprägte Menschen motivieren können, sich zu öffnen, und betonte eine tragfähige vertrauensvolle Beziehung auf Distanz als grundlegende Basis. Hinzu käme, dass Menschen aus dem Orient und insbesondere aus dem arabischen Raum die Behandlungsform Psychotherapie nicht kennen. Eine zusätzliche Erläuterung sowohl zur Psychotherapie als auch zu Akteuren und Angeboten in diesem Themenfeld sei daher wichtig.
Wie ein roter Faden zogen sich zudem Fragestellungen und Beispiele zu kulturspezifischen Kommunikationsweisen und Interaktions- und Kommunikationsfähigkeiten durch den Tag. Anhand von Fallbeispielen, in deren Erörterung Dr. Ali Kemal Gün die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aktiv einband, zeigte er auf, wie Missverständnisse oder Probleme aufgrund von Sprache, unterschiedlich geprägten Kommunikationsstrukturen, Mimik und Gestik entstehen können – und wie sie sich mithilfe von Hintergrundwissen, Sensibilität und einer adäquaten Gesprächsführung verringern und verhindern lassen.
Migrantensensible Anamnese – interkulturelle Kompetenzen
In seinen Ausführungen betonte der Psychologische Psychotherapeut zudem verschiedene Aspekte einer migrantensensiblen Anamneseerhebung. Er veranschaulichte den Einfluss der religiösen Orientierung, des Status in der Familie und der interfamiliären Beziehungen. Auch spezifisches Wissen darüber, wer beispielsweise der Entscheidungsträger für die Migration war, wer wem folgte, welche Erwartungen an die Migration gebunden wurden und welche Enttäuschungen möglicherweise vorliegen, sei bedeutsam. Darüber hinaus verdeutlichte Dr. Ali Kemal Gün anhand von Fallbeispielen, wie in der Arbeit mit Menschen aus kollektivistisch geprägten Gesellschaftsstrukturen gegebenenfalls auch die Fremdanamnese von Familienangehörigen wertvolle positive Impulse geben kann.
Mit Blick auf die interkulturelle Kompetenz von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erläuterte er schließlich die Bedeutung von Eigenschaften wie Bereitschaft zur Selbstreflexion, Empathie, Flexibilität, Anerkennung von Vielfalt und Ambiguitätstoleranz insbesondere für die Arbeit mit Migrantinnen und Migranten. „Es ist wichtig, dass die Behandler eigene Fremdheitsgefühle und Abwehrhaltungen erkennen und überwinden und Konflikte und Unsicherheiten externalisieren, damit sich beide Seiten offen begegnen können.“ Ebenso wesentlich sei, sich zu positionieren und ohne zu hohe Erwartungen und Ansprüche einen vertrauensfördernden Therapiekontext zu schaffen. Für Dr. Ali Kemal Gün eröffnen sich darüber wertvolle Ressourcen: „Im interethnischen therapeutischen Kontext muss die Zugehörigkeit von Therapeuten und Patienten zu unterschiedlichen Kulturen und Ethnien keine Einschränkung, sondern kann sie vielmehr eine Bereicherung bedeuten.“