Rückblick auf den 20. Jahreskongress Wissenschaft Praxis in Bochum

Am 9. und 10. November 2024 fand der vom Hochschulverbund Psychotherapie NRW und der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen gemeinsam ausgerichtete Jahreskongress Wissenschaft Praxis zum 20. Mal statt. Im Jubiläumsjahr standen am Eröffnungsvormittag in drei Vorträgen und einer Podiumsdiskussion Aspekte zum Schwerpunktthema „Psychotherapie 2030 in einer sich wandelnden Welt – Best Practice und innovative Versorgung“ im Fokus. Im Anschluss bot der Kongress an zwei Tagen rund 70 praxisorientierte und verfahrensübergreifend ausgerichtete Workshops zur psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen aller Altersstufen. PD Dr. André Wannemüller, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungs- und Behandlungszentrums (FBZ) für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum, eröffnete die Veranstaltung und führte durch den Vormittag. Mehr als 200 Teilnehmende waren zum Kongress nach Bochum gekommen.
 

Rückblick auf eine Erfolgsgeschichte

Kongressleiterin Prof. Dr. Silvia Schneider spannte in ihrer Begrüßung einen Bogen von den Anfängen bis heute. Der Jahreskongress sei nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes von Prof. Dietmar Schulte, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie der Ruhr-Universität Bochum, als eine der ersten Veranstaltungen dieser Art aus der Taufe gehoben worden. Seitdem habe er eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die sich nicht allein in der stetig gewachsenen Anzahl an Workshops und der positiven Entwicklung der Besucherzahlen zeige. Auch die inhaltliche Vielfalt habe sich weiterentwickelt. Der Kongress Wissenschaft Praxis greife heute eine große Bandbreite an klassischen und innovativen psychotherapeutischen Themen auf. An den Kongressgründer Prof. Dr. Dietmar Schulte, der an der Eröffnung teilnahm, richtete Prof. Dr. Silvia herzliche Dankesworte für seine Initiative.
 

Einstehen für das, was es für psychische Gesundheit braucht

Andreas Pichler, Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, begrüßte die Kongressleitung, das Organisationsteam und die Teilnehmenden im Namen der Kammer. Dem Hochschulverbund Psychotherapie NRW sprach er Anerkennung und Dank dafür aus, einen Kongress in dieser Größe über Jahre hinweg und in steter Weiterentwicklung umzusetzen. Die Kammer richte die facettenreiche Veranstaltung gerne mit aus. Der diesjährige Schwerpunkt „Psychotherapie in einer sich wandelnden Welt“ berühre die Entwicklung des Fachs und ebenso die in der Berufsordnung verankerte Aufgabe, sich zu Themen der psychischen Gesundheit und der psychotherapeutischen Versorgung gesellschaftspolitisch zu engagieren. Dies gehöre auch zunehmend zum Selbstverständnis der Kammer, hielt Andreas Pichler fest.

Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten seien ebenso wie Patientinnen und Patienten von multiplen Krisen umgeben, so der Kammerpräsident weiter. Relevant seien nicht nur die Folgen von Klimakrise und Kriegen. Auch die Gefährdung der Demokratie, eine veränderte Diskussions- und Debattenkultur im öffentlichen Raum oder ein Wahlergebnis in den USA, das scheinbar einen Wahlkampf belohne, der mit vielfach als fragwürdig erlebten Mitteln geführt wurde. Ausgrenzung, verbale Pöbelei, Entwertungen und Ablehnung eines „Anderseins” als „nicht gewollt” seien schädlich für das soziale Miteinander und die demokratische Kultur, betonte Andreas Pichler. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wüssten um die Wucht damit verbundener Erfahrungen und ihren zerstörerischen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und auf soziale Systeme. Der diesjährige Kongressschwerpunkt adressiere insofern auch die Aufgabe, als Profession die Stimme zu erheben, zu mahnen und für das einzustehen, was es für psychische Gesundheit braucht.

Sören Friedrich, wissenschaftlicher Leiter des Kongresses, rundete die Einleitung ab mit Dankesworten an alle, die mit der Kongressorganisation befasst waren und während der Veranstaltung für reibungslose Abläufe sorgen würden. Er dankte Dietmar Schulte für sein Engagement, der Kammer für die beständige und produktive Zusammenarbeit und den Referentinnen und Referenten für ihre Beiträge.
 

Gräben zwischen Forschung und Praxis schließen

Prof. Dr. Johannes C. Ehrenthal, Professor für Klinische Psychologie und empirisch-quantitative Tiefenpsychologie an der Universität zu Köln, zeigte in seinem Vortrag „Vom Graben zur Brücke: Qualitätssicherung und ambulante Psychotherapie“ auf, wie unterschiedliche Anforderungen und Aufgaben zu unterschiedlichen Perspektiven und damit zu „Gräben“ zwischen Forschung und Praxis führen könnten. Angesichts gesellschaftlicher, bildungspolitischer und gesundheitsökonomischer Herausforderungen müsse man sich damit befassen, wie sie geschlossen werden könnten. Als einen Weg beschrieb Prof. Dr. Johannes C. Ehrenthal Practice-Research-Netzwerke. Auch Qualitätssicherung könne dazu beitragen, dass Forschung und Praxis sich verbunden fühlen. Derzeit drohe sie angeordnet und mit Indikatoren umgesetzt zu werden, die weder Behandelnde noch Forschende für geeignet hielten. Die Profession sei daher angehalten, selbst über sinnvolle Kriterien zur Qualitätssicherung nachzudenken. Schließlich könne die Perspektive der Kompetenzorientierung eine Brücke schlagen. Dies bedeute unter anderem, für das Psychotherapiestudium die psychotherapeutischen Kompetenzen zu professionalisieren und in Lernziele zu übersetzen. Abschließend gab Prof. Dr. Ehrenthal zu bedenken, dass Praxis und Forschung sich auch mit möglichen Grenzen von Veränderung in der Psychotherapie befassen müssten.

Partizipative Forschung vorantreiben

Prof. Dr. Isabel Dziobek, Professorin für Klinische Psychologie Sozialer Interaktion an der Humboldt-Universität zu Berlin, referierte zu dem Thema „Hype oder Hoffnungsträger? Was „Patient and Public Involvement“ (PPI) beitragen kann zur Zukunft der mentalen Gesundheitsforschung“. Psychische Erkrankungen seien die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Um sie anzugehen, gelte es unter anderem, Stigmatisierung zu verringern und Patientinnen, Patienten und Angehörige in die Forschung einzubinden. Anhand von Beispielen aus der von ihr gegründeten Autismus-Forschungs-Kooperation (AFK) zeigte Prof. Dr. Isabel Dziobek auf, wie partizipative Forschung umgesetzt werden kann. Als weiteres Beispiel stellte sie KOMMIT vor. Das nutzergeleitete und partizipative Forschungsprojekt wurde vom Trialogischen Zentrumsrat des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG) initiiert und soll die Forschungspräferenzen von Menschen mit Erfahrungsexpertise ergründen. Abschließend kritisierte sie, dass bislang in Deutschland nur eine Scheinpartizipation umgesetzt würde. Um „echte“ partizipative Forschung voranzutreiben und für eine gelingende Beteiligung von Erfahrungsexpertinnen und -experten brauche es unter anderem vertrauensvolle Begegnungen und angemessene zeitliche und finanzielle Ressourcen, hielt Prof. Dr. Isabel Dziobek fest.

Aspekte von Psychotherapie als Wissenschaft und in der Forschung

Prof. Dr. Winfried Rief, Psychologischer Psychotherapeut und Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg, verfolgte in seinem Vortrag die Frage „Psychotherapie als Wissenschaft, Psychotherapie in der Versorgung: Wieviel Austausch wollen wir?“ Er stellte die These auf, dass das bisherige verfahrensorientierte Denken bei der Weiterentwicklung des Fachs in eine Sackgasse geführt habe. Beispielsweise sei es nicht gelungen, die Erfolgsquoten der Behandlungen in den letzten 20 Jahren zu erhöhen. Seiner Ansicht nach sei es an der Zeit für ein neues Grundverständnis von Psychotherapie. Man müsse sich von Therapieschulen lösen, stärker auf relevante Veränderungsmechanismen eingehen und prozessorientiert denken, so Prof. Dr. Winfried Rief. Wesentlich dabei sei die Berücksichtigung verfahrensübergreifender, komplexer Störungsmodelle. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssten für alle Bausteine im Modell wissenschaftlich fundierte Interventionen besitzen. Der notwendige Paradigmenwechsel müsse daher auch in der Aus- und Weiterbildung stattfinden. Ziel müsse sein, unabhängig vom Schulendenken für alle wesentlichen Interventionsbereiche die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln. Zudem müsse die Weiterbildung als selbstlernendes System gestaltet werden, das sich durch Rückführung von Beobachtungen aus Praxis und Forschung beständig weiterentwickeln könne.

Im Anschluss an die Fachreferate erörterten die Referentin und die Referenten in einer von PD Dr. André Wannemüller moderierten Diskussionsrunde gemeinsam mit den Kongressteilnehmenden weitere Aspekte zu den Vortragsthemen und zu künftigen Anforderungen an die Psychotherapie.
 

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