Rückblick auf die Online-Veranstaltung zur Digitalisierung in der Psychotherapie am 10. September 2022
Die ganztätige Online-Veranstaltung „Psychotherapie (voll) digital – Was kann, was darf, was muss? Ende der analogen Ära?“ der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen am 10. September 2022 fand mit über 230 Anmeldungen großen Anklang. Nach einem Überblick über die Entwicklung digitaler Angebote in der Psychotherapie und dem Wissensstand zu ihrer Wirksamkeit zeigten zwei weitere Vorträge beispielhaft ihre Einsatzmöglichkeiten und Chancen aber auch kritisch zu wertende Aspekte auf. Am Nachmittag boten sechs parallele Workshops die Möglichkeit, sich zu spezifischen Fragestellungen bei der Umsetzung digitaler Interventionen in der Psychotherapie auszutauschen. Im Anschluss erörtern Akteurinnen und Akteure aus verschiedenen Arbeitsbereichen in einer Podiumsdiskussion weitere Aspekte der Digitalisierung in der Psychotherapie. Dabei wurden auch zentrale berufspolitische Forderungen herausgestellt. Der Fachtag wurde federführend vom Ausschuss „Digitalisierung“ der Kammer ausgerichtet. Bernadette Bajog, Kinder - und Jugendlichenpsychotherapeutin und stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss, moderierte die Veranstaltung.
Auswirkungen digitaler Interventionen auf die therapeutische Beziehung
Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, begrüßte die Teilnehmenden und die zugeschalteten Vorstandsmitglieder. Dem Ausschuss dankte er für die engagierte Ausgestaltung des umfangreichen Programms. Im Hinblick auf das Veranstaltungsthema würde ihn zum einen insbesondere die rasante Entwicklung in den letzten zweieinhalb „Corona-Jahren“ beschäftigen. Man habe schon bald die Diskussion erlebt, ob die anfängliche „Notlösung“, über Videosprechstunden den Kontakt zu Patientinnen und Patienten zu halten, zum Standard werden könne. Zudem habe es einen wahren Boom an digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) gegeben. Die Entwicklungen hierzu seien kurzfristig und teilweise sehr technisch ausgerichtet gewesen. Die Überlegung, wie sich digitale Therapieformen und Anwendungen auf die psychotherapeutische Arbeit und die Beziehung auswirken, sei stark in den Hintergrund gedrängt worden. Doch gerade diese Frage müsse man vordergründig verfolgen, betonte Gerd Höhner. Seiner Ansicht nach sei die therapeutische Beziehung nicht digitalisierbar. Es ginge dabei um das, was außerhalb des Wortes oder beispielsweise der Bearbeitung von therapeutischen Hausaufgaben stattfinde und ohne die persönliche Beziehung nicht realisierbar sei. Auch die Feststellung, dass eine 100-prozentige Datensicherheit nicht möglich sei, halte er in diesem Zusammenhang für zentral. In der Psychotherapie gäbe es Momente der tiefen Vertraulichkeit und absoluten Intimität, in denen der psychotherapeutische Prozess eine besondere Qualität gewinne. Es sei zu befürchten, dass diese Momente vor dem Hintergrund einer unsicheren Vertraulichkeit kaum noch erreichbar sein werden.
Zum zweiten beschäftige ihn die Frage, wie sich die Digitalisierung auf die psychotherapeutische Versorgung auswirken werde, erklärte der Kammerpräsident. Zu Beginn der coronabedingten Digitalisierungswelle sei der Eindruck entstanden, die Kostenträger würden digitale Angebote aus Gründen der Kostenersparnis vorantreiben. Der Vorstand sei diesem Bestreben von Beginn an entgegengetreten und werde sich auch weiterhin mit der Entwicklung der Versorgungsangebote im Kontext der Digitalisierung befassen. Schließlich sei es ein Ärgernis, dass im politischen Digitalisierungsbestreben voreilig unausgegorene und fehlerhafte Komponenten ausgerollt wurden. Der Berufsstand sei durch die notwendigen Nach-, Um- und Aufrüstungen der Technik zeitlich und finanziell deutlich belastet. Die Gespräche, die man hierzu mit Politik und Kostenträgern führe, seien nicht immer erfreulich. Doch man werde auch zu diesem Thema aktiv bleiben.
Entwicklung und Wirksamkeit digitaler Interventionen
Prof. Dr. Christine Knaevelsrud, Professorin für klinisch-psychologische Intervention der Freien Universität Berlin, zeigte das Spektrum digitaler Interventionen und ihren Einsatz in der Psychotherapie im Kontext der kommunikationstechnologischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte auf. Ausführlich befasste sie sich mit Fragen zur Wirksamkeit digitaler Angebote. Mittlerweile gäbe es Primärstudien und Übersichtsarbeiten, aus denen man zum Beispiel Hinweise auf die Wirksamkeit von Videotherapien ablesen könne. Gegebenenfalls könnten online-Angebote die Bereitschaft von Patientinnen und Patienten erhöhen, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Grundsätzlich seien jedoch noch viele Fragen offen, etwa zu der Wirksamkeit von online-Interventionen bei der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen. Auch zu „Blended Care“, der Integration von digitalen Elementen in die reguläre Psychotherapie, sei noch vieles zu klären, so die Referentin. Dazu gehöre, zu welchem Zeitpunkt online-Interventionen sinnvoll sein könnten, welche Inhalte sich eignen würden, zu welchem Anteil sie mit face-to-face-Elementen gemischt werden könnten und welche Effekte kombinierte Therapien schließlich zeigen. Ein Einblick in noch wenig erforschte Zukunftsbereiche wie digitale Diagnostik und personalisierte Interventionen rundete ihre „Zeitreise durch die Digitalisierung der Psychotherapie“ ab.
Als Fazit hielt Prof. Dr. Christine Knaevelsrud fest, dass therapeutisch begleitete online-Interventionen und Videotherapien wirksam seien, aber die sozialrechtliche bzw. berufsrechtliche Anerkennung der Evidenz noch auszubauen sei. Wesentlich sei zu differenzieren, ob man von Transformation oder Ergänzung sprechen würde. Aus ihrer Sicht seien online-Interventionen potenziell eine Ergänzung analoger Psychotherapie. Keinesfalls seien sie geeignet, Versorgungslücken zu schließen. An ihren Berufsstand appellierte die Psychologische Psychotherapeutin, die Entwicklungen differenziert zu betrachten und mitzubestimmen. Grundsätzlich riet sie dazu, sich ein Grundlagenwissen über digitale Interventionen anzueignen.
Einsatzmöglichkeiten und Kriterien zur Behandlungsplanung
Univ.-Prof. Dr. phil. habil. Christiane Eichenberg, Leiterin des Instituts für Psychosomatik an der Fakultät für Medizin an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, informierte zu Chancen und Kriterien der Behandlungsplanung bei der Einbindung digitaler Medien in die Psychotherapie. Als ihre These stellte sie vor, dass digitale Medien und Anwendungen verschiedene Phasen des therapeutischen Prozesses effektiv unterstützen können. Dabei seien jedoch im Einzelfall für die Behandlungsplanung verschiedene Indikations- und Kontraindikationskriterien abzuwägen. Grundsätzlich spreche man im Bereich E-Mental Health über ein breites Angebot an Anwendungen, zu denen mittlerweile evidenzbasierte Forschungsergebnisse vorliegen würden. Im Rahmen ihres Vortrags konzentrierte sich die Psychotherapeutin mit der Fachkunde Psychoanalyse auf Einsatzmöglichkeiten von Online-Therapien, Virtual-Reality-Anwendungen und Serious Games. Spezifische Online-Interventionen beispielsweise könnten zur Vorbereitung einer Therapie dienen, eine konventionelle Behandlung begleiten oder zur Nachsorge genutzt werden.
Bei der Entscheidung, ob und wenn ja welche digitalen Techniken in welcher Weise in eine Psychotherapie eingebunden werden, seien eine Reihe von Kriterien hilfreich, erläuterte die Referentin. So sei zu überlegen, in welcher Behandlungsphase der Technikeinsatz sinnvoll erscheint. Auch biografische Aspekte wie positive oder negative Medienvorerfahrungen von Patientinnen und Patienten gelte es einzubeziehen. Gleichermaßen seien die störungsspezifische Symptomatik, die jeweilige Persönlichkeit und das Strukturniveau einer Patientin bzw. eines Patienten entscheidende Kriterien für die Behandlungsplanung. Letztlich gelte es zu überprüfen, inwiefern die Behandlungstechnik und die spezifischen Methoden einer Therapieschule an die technische Umgebung adaptierbar seien. An das Ende ihres Vortrags stellte Prof. Christiane Eichenberg Überlegungen zur Integration von digitalen Umgebungen in psychodynamische Behandlungen.
Probleme bei (der Erforschung von) digitalen Therapieanwendungen
Prof. Dr. Tim Klucken, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Siegen, hatte für den Fachtag die Aufgabe übernommen, kritische Punkte bezüglich digitaler Anwendungen in der Psychotherapie zu beleuchten. Als ein Problem führte er an, dass die erfasste Wirksamkeit digitaler Interventionen zwischen einzelnen Studien stark variiere. Dies liege an der großen Heterogenität hinsichtlich Einsatzzeitpunkt, Inhalt und Präsentationsart von online-Interventionen. Aussagen in Metaanalysen von Studien über digitale Anwendungen würden daher zu kurz greifen: Die Kombinationsmöglichkeiten der unterschiedlichen Merkmale seien zu groß, die Stichproben zu klein.
Kritik äußerte der Psychologische Psychotherapeut auch an den Anforderungen zur Evidenzbasierung von online-Interventionen. So konnten digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) anfangs zugelassen werden, ohne dass ihre Wirksamkeit in wissenschaftlichen Studien empirisch nachgewiesen war. Die vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie geforderten Kriterien, dass ein Effekt auf die Intervention zurückführbar sein muss und es eine Kontrollgruppe geben soll, blieben in den Richtlinien zur Zertifizierung von DiGA ebenfalls unberücksichtigt. Vielmehr solle ein Vorher-nachher-Vergleich ausreichen. Gleichermaßen führe der Spielraum, der für die statistische Irrtumswahrscheinlichkeit eingeräumt werde, zu wenig anspruchsvollen Kriterien bei der Zulassung einer DiGA. Auf berufspolitischer Ebene halte er es wichtig, dies kritisch zu begleiten und eine wissenschaftliche Basis der angebotenen Interventionen zu fordern, hielt Prof. Dr. Tim Klucken fest. Die Aussage „Eine digitale Anwendung ist wirksam“ sei nicht ausreichend. Man müsse immer auch fragen „Im Vergleich zu was?“. Befassen müsse man sich seiner Ansicht nach auch damit, ob DiGA einen größeren Nutzen als traditionelle therapeutische Interventionen haben können oder damit, dass sie schlichtweg teurer seien. Schließlich müsse man konstatieren, dass fast alle zugelassenen digitalen Gesundheitsanwendungen im Bereich Psychotherapie einen verhaltenstherapeutischen Hintergrund hätten. Zudem würden häufig Einsatzmöglichkeiten vermischt, ohne dass hierfür eine wissenschaftliche Rationale erkennbar sei.
Austausch im Plenum, vertiefende Workshops
Im Anschluss tauschten sich die Teilnehmenden zu den Themen der Vorträge und zu eigenen Erfahrungen mit dem Einsatz von online-Interventionen aus. Am Nachmittag standen sechs parallele Workshops auf dem Programm. Sie befassten sich mit digitalen Welten von Kindern und Jugendlichen und Möglichkeiten digital unterstützter Psychotherapie für diese Zielgruppe, Erfahrungen mit Videosprechstunden und der Virtual Reality-Expositionstherapie, dem aktuellen TONI-Projekt zu verfahrensübergreifenden online-Interventionen in der psychotherapeutischen Versorgung sowie ethischen Aspekten der Digitalisierung in der Psychotherapie.
Podiumsdiskussion : Datensicherheit im Fokus
Wiebke Schubert, Christoph Saatjohann (oben), Stephan Pohlkamp, Nina Engstermann
Im Anschluss erörtern Akteurinnen und Akteure aus unterschiedlichen Fachgebieten in einer Podiumsdiskussion weitere Aspekte der Digitalisierung in der Psychotherapie und im Praxisalltag. Nina Engstermann, Psychologische Psychotherapeutin und Vorsitzende des Ausschusses „Digitalisierung“ der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, machte deutlich, dass die Digitalisierung auch in die Praxisorganisation hineinspiele und derzeit hohen Aufwand erzeuge, mit denen sich die Profession alleingelassen fühle. Wie weit Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten digitale Anwendungen nutzen, sollte ihre freie Entscheidung sein. Dies beträfe die Einrichtung einer Homepage ebenso wie beispielsweise die Überlegung, mit einer DiGA zu arbeiten. Erstrebenswert sei, in der Versorgung eine große Vielfalt zu erreichen. Dies sei auch wichtig, um möglichst viele Patientinnen und Patienten zu erreichen. Von der Politik wünsche sie sich mehr Augenmaß, Digitalisierung dort voranzutreiben, wo sie wirklich sinnvoll sei, und die Profession in die Entwicklung digitaler Angebote intensiv einzubeziehen.
Stephan Pohlkamp, stellvertretender Leiter des Referats „Digitalisierung der medizinischen Versorgung“ des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) des Landes Nordrhein-Westfalen, wies darauf hin, dass viele Daten, die digitalisiert wären, analog ohnehin bereits vorhanden wären. Für die Datensicherheit in der medizinischen Versorgung habe man sehr hohe Standards angesetzt. Mittlerweile gäbe es im Markt zertifizierte Anbieter, die zu IT-Fragen beraten können. Auf politischer Ebene werde man verfolgen, ob weitere Unterstützung benötigt werde. Mit Blick auf digitale Behandlungsmöglichkeiten betonte der Regierungsdirektor, dass sie die analoge Therapie nicht verdrängen sollen, sondern man sie aus politischer Perspektive im Sinne einer möglichen Verbesserung der Versorgungsqualität als Ergänzung betrachte. Den Teilnehmenden bot er an, bei Fragen und Anregungen zu diesen Themen gerne auf ihn zuzukommen.
Christoph Saatjohann, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Labor für IT-Sicherheit der Fachhochschule Münster, räumte ein, dass es 100-prozentige Datensicherheit nicht gäbe. Man sei jedoch damit befasst, in den sensiblen Bereich der Psychotherapie so viel Sicherheit wie möglich hineinzubringen. Anwendungen wie den Kommunikationsdienst KIM (Kommunikation im Medizinwesen) seien nach seiner Ansicht in psychotherapeutischen Praxen sehr zu empfehlen. Andere Anwendungen wie zum Beispiel die elektronische Patientenakte, seien freiwillig zu nutzen. Für wichtig halte er, Strukturen zu schaffen, die die Profession in IT-Fragen unterstützen. Hierin liege beispielsweise der Wert der IT-Sicherheitsrichtlinie. Konkret empfahl er Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, IT-Fragen über einem zertifizierten Dienstleister zu lösen, sich untereinander zu vernetzen und Informationsangebote wahrzunehmen.
Wiebke Schubert, Vorsitzende des Landesverbandes NRW der Angehörigen psychisch Kranker e.V., berichtete, dass Patientinnen und Patienten im psychotherapeutischen Alltag mittlerweile mit einem großen Spektrum an digitalen Elementen in Berührung kämen, angefangen bei Angeboten wie online-Terminbuchungen. Doch nicht alle Menschen könnten mit der Technik umgehen oder sich die notwendigen Endgeräte leisten. Entsprechend müsse eine Vielfalt an Zugängen zur Psychotherapie gegeben sein, forderte die Juristin. Gleiches sei für das Behandlungsangebot wünschenswert. Die Resonanz von Patientinnen und Patienten auf digitale Angebote erscheine ihr grundsätzlich sehr unterschiedlich - ähnlich wie dies gesamtgesellschaftlich zu beobachten sei. Viele Befürchtungen gäbe es hinsichtlich der Datensicherheit. Dies betreffe die Technik, aber zum Beispiel auch Fragen wie die, ob jemand eine Online-Therapiestunde zu Hause in einem ausreichend geschützten Raum durchführen könne.
Ergänzung analoger Angebote durch digitale Elemente bedenken
Gerd Höhner dankte in seinem Schlusswort allen Teilnehmenden für ihre Beiträge und dem Ausschuss der Kammer für die gute Vorarbeit. Bezüglich der Diskussion der Forschungsergebnisse zu online-Interventionen in der Psychotherapie sei er nachdenklich. Positiv nehme er mit, dass es in der Versorgung nicht um Transformation, sondern um Ergänzung der analogen Psychotherapie durch digitale Angebote ginge. Die Veranstaltung habe deutlich gemacht, dass die Kammer aufgefordert sei, die Profession in diesem Sinne zum „digitalen Experimentieren“ zu ermuntern. Die Podiumsdiskussion habe gezeigt, wie zentral das Thema Datenschutz sei und wie sehr es alle Beteiligten im Alltag beschäftige. Die Vertraulichkeit sei eine Grundvoraussetzung für die psychotherapeutische Arbeit, die Digitalisierung jedoch weit davon entfernt, diese Grundlage leisten zu können. Vor diesem Hintergrund werde man sich mit der Weiterentwicklung der Angebote befassen – so weit, wie sich das in der therapeutischen Beziehung verwirklichen ließe und mit aller Vorsicht, die geboten sei.