Sexualisierte Gewalt als (Behandlungs-)Thema in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie – Symposium der Psychotherapeutenkammer NRW am 26. März 2022
Wie kann es sein, dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder unbemerkt bleibt und Betroffene lange Zeit darüber schweigen? Welche Einsichten eröffnen Fallanalysen? Welche Herausforderungen ergeben sich bei diesem Thema für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und für das Zusammenwirken aller am Kinderschutz Beteiligten? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das 3. Symposium der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Psychotherapeutenkammer NRW am 26. März 2022, das federführend von dem Ausschuss Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet wurde. Rund 230 Gäste hatten sich zu der Online-Veranstaltung angemeldet. Sie folgten am Vormittag zwei Fachvorträgen, vertieften am Nachmittag in Workshops weitere Themenaspekte und tauschten sich in einer abschließenden Plenumsdiskussion aus.
Flexiblere Finanzierungs- und Leistungsgrundlagen schaffen
Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, begrüßte die Teilnehmenden, Referentinnen und Referenten sowie die Moderatorinnen und Moderatoren. Einführend bezog er sich auf die erschütternden Ereignisse, die in den Städten Lügde, Bergisch Gladbach und Münster bekannt geworden sind. Die Bevölkerung sei hier mit einem ungeahnten Ausmaß sexualisierter Gewalt gegenüber jungen Menschen konfrontiert worden. Das Thema habe die Profession in den letzten Jahren sehr beschäftigt, auch der nordrhein-westfälische Landtag habe das Thema mit Nachdruck verfolgt. Für die Kammer stelle sich die zentrale Frage, wie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten fachlich unterstützen können, um die Kooperationen mit Jugendhilfe und Beratungsstellen weiter auszugestalten.
Durch verschiedene Aktivitäten zum Themenbereich Kinderschutz des nordrhein-westfälischen Landtages seien in der Jugendhilfe fachliche, organisatorische und strukturelle Mängel deutlich geworden, hielt Gerd Höhner fest. Aus Sicht der Kammer beträfe dies insbesondere die fachliche Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Für die ambulante psychotherapeutische Versorgung forderte er flexiblere Finanzierungs- und Leistungsgrundlagen. Derzeit könnten niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten viele Leistungen, die alle am Kinderschutz Beteiligten für sinnvoll und erforderlich hielten, im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinie nicht abrechnen. Eine Aufgabe sei es, Jugendhilfe und ambulante psychotherapeutische Versorgung besser zu verzahnen. Dies könne nicht allein dem großen ehrenamtlichen Engagement der Profession überlassen werden. In verschiedenen Anhörungen im Landtag und Gesprächen mit Entscheidungsträgern habe die Kammer auf diesen Verbesserungsbedarf hingewiesen. Fachliches Know-how und Interesse seien auf allen Seiten vorhanden, betonte der Kammerpräsident. Nun gelte es, Wege zur Intensivierung der Zusammenarbeit zu eröffnen. Er sei zuversichtlich, dass die Initiativen der Landesregierung im Bereich Kinderschutz auch über die anstehende Wahl hinaus entsprechende Schritte ermöglichen werden.
Aufgaben für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten
Oliver Staniszewski, Vorsitzender im Ausschuss Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen der Psychotherapeutenkammer NRW und Moderator der Veranstaltung, hieß die zugeschalteten Gäste, Vortragenden und Workshop-Leitenden willkommen. Das Thema sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern überschreite Grenzen und breche Tabus. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -psychotherapeuten seien die Fachleute, um den Betroffenen Hilfe anzubieten und ihnen bei teilweise jahrelangen Verarbeitungs- und Heilungsprozessen zur Seite zu stehen. Dabei gehöre es zu ihren Aufgaben, sich selbst kontinuierlich zu reflektieren, zu informieren und auf den neuesten Stand der Erkenntnisse zu bringen. Ebenso bräuchte es den kollegialen und supervisorischen Austausch, um sich psychisch zu entlasten und zu neuen Erkenntnissen zu kommen. In diesem Sinne habe der Ausschuss der Kammer das Programm des Symposiums zusammengestellt. Die Tatsache, dass die Veranstaltung binnen Stunden ausgebucht war, bestätige die Ausschussmitglieder in ihrem Engagement.
Aktivitäten des Landtags im Themenfeld Kinderschutz
Christina Schulze Föcking, Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion in der Kommission für die Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderschutzkommission), dankte in ihrem Grußwort der Profession und der Kammer als ihrer Vertretung für das große Engagement im Themenfeld sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Im Landtag habe man im Zuge der Fälle von Lügde, Münster und Bergisch Gladbach einen Untersuchungsausschuss und eine Kinderschutzkommission gebildet, um über Parteigrenzen hinweg für Verbesserungen einzutreten. Kinderschutz zöge sich als breites Querschnittsthema durch alle Lebensbereiche und die beteiligten Institutionen, darunter Kita und Schule, Medizin, Justiz, Jugendämter und Anschlusshilfen. Entsprechend habe man in Nordrhein-Westfalen auch eine interministerielle Arbeitsgruppe gegründet und Ende 2020 ein umfassendes Handlungs- und Maßnahmenkonzept auf den Weg gebracht.
Eine dringende Aufgabe sei es, den Kinderschutz stärker in der Ausbildung der entsprechenden Berufsgruppen zu verankern. Darüber hinaus sei es wichtig, über die Schulen die Medienkompetenz der Kinder zu fördern. Sie müssten die Gefahren kennen und wissen, wo sie Hilfe finden. Die Landesregierung habe bereits ein Gesetz beschlossen, das Ärztinnen und Ärzten im Verdachtsfall den interkollegialen Austausch erleichtere. Als großen Meilenstein bezeichnete Christina Schulze Föcking das kurz vor der Verabschiedung stehende Landeskinderschutzgesetz NRW. Es ziele auf eine Qualitätsoffensive und mehr Unterstützung für die Fachkräfte in Jugendamt, Kita und Schule. Leitlinien für Kinderschutzkonzepte könnten die in der Fläche teilweise sehr unterschiedlichen Organisationsstrukturen angleichen. Zudem sollen die Akteurinnen und Akteure vor Ort stärker vernetzt und der Wissenstransfer zwischen den Berufsgruppen gefördert werden. Abschließend bekräftigte die Landespolitikerin ihren Wunsch, den guten Austausch mit der Kammer und dem Berufsstand fortzusetzen und zu vertiefen. Insbesondere mit Blick auf die Anschlusshilfen und die psychotherapeutische Versorgung bräuchte es mehr Angebote und einen besseren Zugang.
Kinderschutz als Schutz vor sexueller Gewalt in Familien
Prof. Dr. phil. Christian Schrapper vom Institut für Pädagogik der Universität Koblenz-Landau war bereits in mehreren Fällen als Gutachter tätig. Er beschrieb in seinem Vortrag „Kann Kinderschutz Kinder vor sexueller Gewalt in Familien schützen?“ Herausforderungen für die Fachkräfte in der Jugendhilfe, die Perspektive der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Möglichkeiten des Zusammenwirkens. Am Beispiel eines bekanntgewordenen Missbrauchsfalls in Münster zeigte er auf, wie trotz unterschiedlicher Maßnahmen und Einhaltung aller geltenden Regeln das betroffene Kind nicht vor sexueller Gewalt im familiären Umfeld geschützt werden konnte. Aus der Fallanalyse leitete der Experte Herausforderungen ab, mit denen die Fachkräfte bei der Wahrnehmung und Einschätzung von Risiken und Gefahren in Kinderschutzfällen konfrontiert seien. Diese würden sich unter anderem im Kontakt mit den Eltern und dem Kind, im Zuge der internen Arbeitsweise im Jugendamt, in Bezug auf benötigtes Fachwissen und angesichts juristischer Aspekte ergeben. Die Arbeit des Jugendamtes bewege sich stets zwischen Hilfeangeboten und Sanktionen. Dieses Spannungsfeld würde sich auch auf weitere Akteurinnen und Akteure auswirken, die mit unterschiedlichen Aufgaben und Leistungen in diesem Themenfeld aktiv sind.
Ausführlich ging Prof. Schrapper auf Herausforderungen ein, die sich zwischen Fachkräften im Bereich Kinderschutz stellen. Auf der einen Seite gäbe es klare gesetzliche Vorgaben, die eine Ermittlung und Sanktionierung beinhalten. Auf der anderen Seite habe das Jugendamt die Aufgabe, Gefährdung zu erkennen und abzuwenden. Für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bestünde der Auftrag in der Linderung, Heilung und Kompensation von Verletzung. In diesem Spannungsfeld bewege sich die Zusammenarbeit der beteiligten Organisationen. Beispielhaft ging er dazu auf die Anforderung ein, Informationen auszutauschen, die für den Kinderschutz relevant sein könnten, ohne dass der Respekt oder die Datenschutzrechte von Eltern und Kindern verletzt werden. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten würden dann mit den Fragen „Was kann, darf oder muss ich sagen?“ konfrontiert. Unterstützend vor allem bei problematischen Fallverläufen und zur Verbesserung zukünftiger Zusammenarbeit könne die gemeinsame Rekonstruktion und Reflexion sein. Im Münsteraner Fall habe man dies erkannt und nachträglich einen runden Tisch für alle Beteiligten eingerichtet.
In der anschließenden Plenumsdiskussion wurden die Überwindung von Konkurrenzdenken und eine bessere Vernetzung der verschiedenen Bereiche untereinander hervorgehoben, aus fachlicher Sicht, aber auch im Sinne der geringsten Belastung für die Kinder. Kammerpräsident Gerd Höhner merkte an, dass es bei der Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen nicht darum gehen dürfe, wer etwas besser bzw. schlechter könne, sondern um die Gestaltung kompetenter Dialoge. Das eigentliche Problem läge in der Nicht-Auseinandersetzung und in einseitigen Perspektiven. Es sei das Anliegen der Kammer, diese Mängel zu beheben.
Warum merkt niemand etwas, warum schweigen Kinder?
Monika Bormann, Psychologische Psychotherapeutin aus Bochum, leitete viele Jahre eine Fachberatungsstelle gegen Misshandlung, Vernachlässigung und sexualisierte Gewalt an Kindern. Sie verfolgte in ihrem Vortrag die Fragen, warum sexualisierte Gewalt gegen Kinder selten bemerkt wird und wie die betroffenen Kinder zum Schweigen gebracht werden. In ihren Ausführungen beleuchtete sie dazu die Strategien der Missbrauchenden einerseits, aber auch das Erleben der Betroffenen und das Umfeld. Kenntnisse über die Missbrauchsdynamik seien für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten wesentlich, um mit betroffenen Kindern ins Gespräch zu kommen. Sexuellen Missbrauch beschrieb sie als eine strategisch geplante (Straf-)Tat. Täterinnen und Täter würden ihre ganze Energie darauf verwenden, dass das Kind niemandem etwas erzählt oder unglaubwürdig erscheint. Nach außen würden sie den Eindruck vermitteln wollen, dass sie zu derartigen Taten niemals fähig wären.
Ausführlich beschrieb die Referentin, wie sich Täter oder Täterinnen dem Kind nähern, sein Vertrauen gewinnen und den Missbrauch anbahnen. Damit ein Kind über seine Erlebnisse schweigt, seien die Missbrauchenden bestrebt, Schuld- und Schamgefühle in ihm zu wecken. Ebenso gehöre es zur Täterstrategie, das Kind in seiner Selbstwahrnehmung und in seinen Werten und Normen zu verwirren, Strafe anzudrohen und Angst vor möglichen Folgen zu schüren. Dies könne bei den Betroffenen Ohnmachtsgefühle, Selbstekel und Selbsthass erzeugen. Typisch sei die erlebte Ambivalenz zu der missbrauchenden Person: Der Täter oder die Täterin sei für die Betroffenen nicht nur „schlecht“. Eine Aufgabe in der Psychotherapie sei es, diese komplexen Empfindungen der Betroffenen im Blick zu behalten. Auf das Umfeld bezogen erläuterte Monika Bormann, dass Kindern häufig nicht geglaubt werde, dass ein Missbrauch stattgefunden habe. Bei den Erwachsenen würden dabei auch Faktoren wie eine verwirrte Wahrnehmung, Schuldgefühle und Angst vor möglichen Konsequenzen eine Rolle spielen.
Vertiefende Workshops und Diskussion im Plenum
Am Nachmittag fanden parallel sechs Online-Workshops statt. Drei Angebote befassten sich mit Aspekten der Psychotherapie mit betroffenen Kindern und Jugendlichen. Weitere Arbeitsthemen waren das Spektrum von Grenzverletzungen und Machtmissbrauch in der Psychotherapie, die AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie und neue (digitale) Formen sexueller Gewalt. In einer anschließenden Plenumsdiskussion bezogen sich Wortmeldungen unter anderem auf Aspekte im Zusammenhang mit rechtlichen Rahmenbedingungen und den Umgang mit Beschwerden über Vertrauensverletzungen oder Machtmissbrauch durch Behandelnde selbst. Wichtig sei, Kooperationen zu stärken, Schnittstellen zu verbessern und mehr Aufklärung und Fachwissen in die Ausbildungen aller Akteurinnen und Akteure im Bereich Kinderschutz zu bringen. An die Politik ging der Aufruf, die Versorgungsplanung dem Bedarf anzupassen und mehr Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten für die vertragspsychotherapeutische Versorgung zuzulassen.
Gerd Höhner betonte in seinem Schlusswort, die Kammer sei bereits längere Zeit mit den verantwortlichen Stellen darüber im Gespräch, dass es für eine zufriedenstellende Versorgungssituation mehr psychotherapeutische Angebote für Kinder und Jugendliche bräuchte. Man habe zudem wiederholt auf notwendige Flexibilisierungen hingewiesen, um Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die bessere Refinanzierung ihrer Leistungen zu ermöglichen. Mit dem Symposium sei einmal mehr deutlich geworden: Die gute Qualität der Versorgung sei nur durch den Dialog mit der Profession zu leisten. Es sei wichtig, diesen Austausch zum fachlichen Standard zu entwickeln. Die Kammer werde diese Anliegen und das Thema Kinderschutz auf politischer Ebene weiterhin verfolgen. Abschließend dankte er dem Ausschussvorsitzenden für die gelungene Moderation, der Geschäftsstelle für die gute Organisation der Veranstaltung und den Teilnehmenden für ihre rege Beteiligung.