„Sexualitäten – Identitäten“ – 2. Symposium der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Psychotherapeutenkammer NRW
Wie entwickelt sich die sexuelle Identität? Welche Besonderheiten prägen die psychotherapeutische Begleitung von transidenten Kindern und Jugendlichen? Wie gestaltet sich ihre Lebenssituation im Spannungsfeld von Gesellschaft, Politik und Berufsethik? Diesen Fragen rund um das Schwerpunktthema „Sexualitäten – Identitäten“ widmete sich das 2. Symposium der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) am 27. März 2021. Die Online-Fachveranstaltung wurde federführend von dem Ausschuss Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen der Psychotherapeutenkammer NRW ausgerichtet. Mit über 320 Teilnehmenden fand das bereits nach wenigen Tagen ausgebuchte Symposium großen Anklang.
„Die heutige Veranstaltung greift ein gesellschaftlich sehr aktuelles Thema auf, dem auch im Zusammenhang mit der Reform der Psychotherapeutenausbildung und der Weiterbildung für unsere Profession ein hoher Stellenwert zukommt“, betonte Gerd Höhner, Präsident der PTK NRW, in seiner Eröffnung. Oliver Staniszewski, Vorsitzender des Ausschusses Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen der PTK NRW, blickte in seiner Begrüßung auf aktuelle Aspekte im politischen Wirken von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Eines der zentralen Anliegen sei, in der Weiterbildungsordnung die Altersgrenzen für Behandlungen durch zukünftige Fachpsychotherapeutinnen und Fachpsychotherapeutinnen zu regeln. Darüber hinaus merkte Oliver Staniszewski an, dass Familien in Zeiten der Coronavirus-Pandemie besondere Unterstützung benötigen würden.
Ingeborg Struck, Mitglied im Ausschuss Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen der PTK NRW, informierte einführend, dass seit einiger Zeit weltweit die Zahl der Jugendlichen steige, die ohne Anzeichen für Geschlechtsdysphorie in der Kindheit kurz vor oder nach der Pubertät ein „Transgenderbekenntnis“ äußern. Insbesondere habe in den vergangenen Jahren die Zahl von Transjungen zugenommen. Ingeborg Struck skizzierte die Situation und die Belastungen von transidenten Kindern und Jugendlichen. In die Praxen kämen sie oft weniger aus eigenem Antrieb. Vielmehr muss im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung vor dem Beginn einer Hormonbehandlung eine Behandlung mit psychiatrischen und psychotherapeutischen Mitteln erfolgen. Bei der psychotherapeutischen Begleitung von Transmenschen stünde neben der Bearbeitung der individuellen Inhalte häufig das Handeln außerhalb der Sitzungen im Vordergrund, beispielsweise wenn im Rahmen eines Begutachtungsverfahren Auskünfte zu erteilen sind. Zudem seien die Behandelnden womöglich stärker noch als bei anderen psychotherapeutischen Themen gefordert, sich selbst zu reflektieren und zu positionieren. Dabei würden auch ethische Fragen berührt, etwa ob man in den Hormonhaushalt eines noch nicht ausgereiften Menschen eingreifen dürfe oder körperverändernde Operationen in einer von Unsicherheiten und Stimmungen geprägten Entwicklungsphase durchgeführt werden sollten.
Identitätsentwicklung und Sexualität vor neuen Herausforderungen
Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke, Psychologische Psychotherapeutin und Professorin für Entwicklungspsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, erläuterte, dass seit circa zwei Jahrzehnten eine verlängerte Identitätsentwicklung (Emerging Adulthood) wahrzunehmen sei. Viele teilweise jugendspezifische Entwicklungsprozesse hätten sich bis weit in das junge Erwachsenenalter hinein verschoben und 30-Jährige oftmals erst zu 34 Prozent einen reifen Identitätsstatus erreicht. Die Identitätsreife sei jedoch Voraussetzung für die erfolgreiche Lösung nachfolgender Entwicklungsaufgaben, die auch die Entwicklung der Sexualität mit beeinflussen. Zusätzlich sei ein längeres und mitunter intensiveres „sich Ausprobieren“ junger Menschen zu beobachten. Gleichermaßen habe sich die Elterngeneration verändert. Eltern seien heute weniger festgelegt, würden sich länger als „jung“ verorten und könnten ihre Kinder weniger gut loslassen. Im Zusammenhang mit Transgender-Themen seien diese Entwicklungen bedeutsam.
Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke stellte dar, dass sich die Geschlechtsidentität bereits in der Kindheit entwickle, aber lange variabel bleiben würde. Geschlechtsinkongruentes Verhalten finde sich im Kindesalter häufiger und bilde sich meist im Jugendalter zurück. Eine Geschlechtsdysphorie im Jugendalter sei oft mit massiven Symptomen wie Selbstverletzung oder Suizidversuchen bei den Betroffenen verbunden. Die aktuell steigende Zahl an Transjungen sei in Verbindung mit verschiedenen Faktoren zu sehen. Dazu gehöre eine immer schon sehr selbstkritische Haltung von Mädchen, ihre starke intersubjektive Bezogenheit und Herausforderungen im Zusammenhang mit körperlichen Reifungsprozessen. Bei einer erstmals im Jugendalter aufkommenden Geschlechtsdysphorie sei abzuklären, ob sie im Zusammenhang mit einer Reifungs- und Sinnkrise stehe oder medial beeinflusst sein könnte. Abschließend forderte die Expertin, die Transgender-Thematik weiter zu entpathologisieren. Die S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit von 2018 sei ein Schritt in diese Richtung.
Psychotherapie mit transidenten Kindern und Jugendlichen
Judith Lichtenberg, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Dortmund, erläuterte das Vorgehen in der Begleittherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie. Viele der jungen Patientinnen und Patienten seien depressiv verstimmt und würden nicht selten Ablehnung und Widerwillen gegen ihren Körper hegen, was sich bisweilen in selbstverletzendem, mitunter auch suizidalem Verhalten äußern könne. Sie führte am Beispiel ihrer Arbeit mit transidenten Kindern und Jugendlichen durch wesentliche Aspekte der Probatorik und betonte die prozessuale Diagnostik auch in Zusammenarbeit mit beiden Elternteilen. Zu beachten sei, dass die meisten Jugendlichen sich mit 16 Jahren noch inmitten ihrer sexuellen Identitätsfindung befinden würden. Diese sollte zunächst diagnostisch-therapeutisch begleitet werden. Erkennbare Anzeichen für Persönlichkeitsstörungen wies sie als Kontraindikationen für geschlechtsangleichende Maßnahmen aus. Vor einer geschlechtsangleichenden Operation sei die ausreichende Behandlung möglicherweise vorliegender Komorbiditäten unerlässlich.
Die Psychotherapie mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen beschrieb Judith Lichtenberg als ausgangsoffene, unterstützende und langwierige Begleitung mit Anleitung zur Selbstreflexion. Neben der Klärung, ob Geschlechtsdysphorie oder Transsexualität vorliege, müsse im Verlauf über eine ausreichend lange Zeit psychische Stabilität sichtbar werden und eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst stattgefunden haben. Erst dann sei die Patientin oder der Patient bereit für eine Hormontherapie und irreversible chirurgische Eingriffe. Voraussetzung für die Indikation sei, dass das Kind oder die Jugendliche bzw. der Jugendliche, beide Elternteile und alle behandelnden Spezialistinnen und Spezialisten darin übereinstimmen: Eine Nicht-Behandlung würde den Leidensdruck verschlimmern und zu einem absehbar größeren seelischen Folgeschaden führen als die Folgen des Restrisikos einer sich möglicherweise später doch zeigenden Fehlindikation.
Transgender im Spannungsfeld von Gesellschaft, Politik und Berufsethik
Sabine Maur, Psychologische Psychotherapeutin und Präsidentin der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz, beleuchtete Transgender-Aspekte im gesellschaftlichen, politischen und berufsethischen Kontext. Ungleichheits- und Diskriminierungstendenzen bezüglich der sexuellen Identität und Ausrichtung eines Menschen seien auch im Gesundheitssystem und im psychotherapeutischen Raum zu finden. Ursachen für Unsicherheiten der Behandelnden seien unter anderem der Mangel an Aus- und Weiterbildungsinhalten zu Transgender-Themen sowie die spezifischen rechtlichen Gegebenheiten, die bei der Arbeit mit transidenten Menschen zu berücksichtigen seien. Hinzu käme die große Verantwortung bezüglich der Empfehlung geschlechtsangleichender Maßnahmen. Zusätzlich blieben der insbesondere in den sozialen Medien ausgetragene Konflikt zwischen transzugewandten und transfeindlichen Kreisen und unangemessene Darstellungen in der Presse nicht ohne Effekt.
Eine systematische Diskriminierung transidenter Menschen sei auch im juristischen Fundament des Gesundheitssystems selbst angelegt, konstatierte Sabine Maur. Das Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG) schreibe zwei Gutachten und ein Gerichtsverfahren vor. Die Begutachtungsanleitung (BGA) des Spitzenverbandes Bund der Gesetzlichen Krankenkassen (Stand 31. August 2020) ermögliche geschlechtsangleichende Maßnahmen nur nach einer bestimmten Anzahl von Psychotherapiestunden, definiere Therapieziele und verlange Berichte zur Behandlung des Leidensdrucks. Dies fördere eine nicht zu rechtfertigende Abhängigkeit der Transmenschen von Fachleuten und bringe Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten unfreiwillig in die Rolle von Gate-Keepern. Die Profession positioniere sich hierzu deutlich und fordere unter anderem die Abschaffung des TSG. In der Muster-Berufsordnung sei zudem festgehalten, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sich an der Erhaltung und Weiterentwicklung der soziokulturellen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die psychische Gesundheit beteiligen sollten. Hierzu gehöre auch, der Diskriminierung transidenter Menschen entgegenzuwirken, betonte Sabine Maur.
„Ein von großer Verantwortung geprägtes Tätigkeitsfeld“
In der Diskussion wiesen mehrere Teilnehmende darauf hin, dass die Begleitung und Behandlung von transidenten Kindern und Jugendlichen aus vielerlei Gründen ein anspruchsvolles, von großer Verantwortung geprägtes Tätigkeitsfeld sei. Die Differenzierung von „Störungsmode“ oder „echtem Leiden“ und die Indikation für oder gegen geschlechtsangleichende Maßnahmen müssten angesichts der weitreichenden und langfristigen Konsequenzen für die Betreffenden äußerst sorgsam erarbeitet werden. Die Aufgabe, gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Eltern tragfähige Lösungen zu erarbeiten, sei in den Händen von Kinder- und Jugendlichentherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichentherapeuten gut aufgehoben. Aufwändige Anforderungen wie die Erstellung von Berichten sollten entsprechend honoriert werden. Angesprochen wurde auch, dass die Altersgebiete in der neuen Weiterbildungsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten unter Berücksichtigung der Emerging Adulthood zu definieren seien. Hervorhoben wurde die Bedeutung des kollegialen Austausches in interdisziplinären Qualitätszirkeln. Womöglich könne diese Form der Zusammenarbeit gemeinsame Standards in der „Behandlungshaltung“ fördern. Betont wurde, sich als Profession fachlich und politisch dafür zu engagieren, die Rahmenbedingungen für die Arbeit mit transidenten Kindern und Jugendlichen zu verbessern.
Kammerpräsident Gerd Höhner hielt abschließend fest, dass die Vorträge und die Diskussion eindrucksvoll gezeigt hätten, welch hohe professionelle Herausforderungen die Arbeit mit transidenten Kindern und Jugendlichen an Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten stelle. Im Zuge der Professionalisierung der Berufe sei in den letzten 20 Jahren verstärkt die Aufgabe an den Berufsstand herantragen worden, die umfassende Verantwortung bei Entscheidungen zu tragen. Diese Verantwortung zu übernehmen, sei nicht immer einfach. Deutlich geworden sei auch, dass Transgender-Themen mit beträchtlichen ethischen Herausforderungen verbunden seien. Für die Beurteilung, ob eine Identitätsproblematik vorliegt, die entsprechende Maßnahmen rechtfertigt, gäbe es keine generellen Maßstäbe. Neben einer hochqualifizierten Diagnostik sei stets auch die Reflexion der eigenen Position erforderlich, um im Einzelfall eine fundierte Entscheidung treffen zu können.