Sucht: Mehr ambulante Behandlung notwendig – Bericht vom 5. Jahreskongress Psychotherapie
Psychotherapie ist ein wichtiger Bestandteil der Suchtbehandlung. Ihre Wirksamkeit ist wissenschaftlich nachgewiesen.
„Dennoch erhalten viel zu wenige Suchtkranke eine psychotherapeutische Versorgung“, kritisierte Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW, auf dem 5. Jahreskongress Psychotherapie am 24./25. Oktober 2009 in Bochum. Über 300 Teilnehmer diskutierten auf dem Kongress die Versorgungsdefizite und psychotherapeutischen Konzepte der Suchtbehandlung in Deutschland.
Prof. Dr. Gerhard Bühringer (TU Dresden) beschrieb die bestehenden Versorgungsstrukturen und deren Defizite. Alkoholkranke würden zu spät, dann exzellent, aber einseitig stationär behandelt. Bis zu seiner ersten stationären Entwöhnungsbehandlung sei ein Alkoholkranker schon mehr als zehn Jahre abhängig. In der ambulanten Behandlung seien Alkoholkranke dagegen kaum zu finden. Nur 1,5 der Patienten in psychotherapeutischen Praxen seien aufgrund einer Alkoholsucht in Behandlung.
„Ein ganz dunkles Kapitel ist die Medikamentenabhängigkeit“, stellte Bühringer fest. Obwohl nach epidemiologischen Untersuchungen rund 1,4 Millionen Menschen in Deutschland von psychoaktiven Medikamenten und knapp 400.000 Menschen von Hypnotika und Sedativa abhängig seien, tauchten diese Suchtkranken in der Versorgung so gut wie nicht auf.
Suchtkrankheiten seien psychische Erkrankungen mit gravierenden Folgen: Jährlich kämen über 115.000 Menschen aufgrund von Tabak-, und knapp 50.000 Menschen aufgrund von Alkoholabhängigkeit ums Leben. Die Kosten dieser beiden Suchtkrankheiten summierten sich auf fast 50 Milliarden Euro. Außerdem seien Suchtkranke in erheblichen Ausmaß auch an anderen psychischen Störungen erkrankt: Bei einer Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten oder illegalen Drogen seien 20 bis 60 Prozent der Süchtigen auch an einer affektiven Störung erkrankt, bis zu 60 Prozent an einer Angststörung und 15 bis 55 Prozent litten an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. 25 bis 50 Prozent dieser Suchtkranken versuchen einen Suizid. Bühringer forderte insbesondere frühzeitigere Interventionen nicht nur bei ausgeprägten Störungen, sondern bereits bei riskantem Konsum von Suchtsubstanzen. Dafür sei vor allem eine bessere ambulante und teilstationäre Behandlung von Suchtkrankheiten.
Dr. Johannes Lindenmeyer (Salus Klinik Lindow) plädierte nachdrücklich für eine Abkehr vom „Leidensdruck-Paradigma“. Es sei ein Vorurteil, dass z.B. ein Alkoholkranker erst große Mengen konsumieren, häufig einen Rausch haben und asoziales Verhalten zeigen müsse, bevor er zu einer Behandlung zu motivieren sei. Dieses Bild vom Suchtkranken verhindere eine frühzeitige, effektive Behandlung, da der Kranke mit der Dauer der Abhängigkeit sein Verhalten immer weniger verändern könne.
Lindenmeyer forderte eine „Kultur des direkten Ansprechens“. Psychotherapeuten sollten jeden Patienten auf Suchterkrankungen screenen. Die Ergebnisse von Kurzfragebögen seien effektiv und insbesondere valider als Laborwerte. Berichte von Alkoholexzessen, Führerscheinverlust oder das Verschieben von Sitzungen seien ein Anlass um zumindest über schädlichen Substanzkonsum zu sprechen.
Prof. Dr. Joachim Körkel (Evangelische Fachhochschule Nürnberg) präsentierte das Konzept des kontrollierten Trinkens, das insbesondere eine stärkere ambulante Behandlung von Suchtkrankheiten ermögliche. „Die Mehrzahl der Suchtprobleme kann ambulant behandelt werden“, stellte Körbel fest. „Suchtprobleme sind genauso erfolgreich zu behandeln wie andere psychische Erkrankungen auch.“
Abstinenz als einzig mögliches Behandlungsziel könne Patienten abschrecken, die auf Alkohol (noch) nicht verzichten oder nicht als "Alkoholiker" etikettiert werden möchten. Das Konzept des kontrollierten Trinkens relativiere den absoluten Verzicht auf Alkohol als Behandlungsziel. Es arbeite mit Alkoholmengen, die über 40 Gramm reinen Alkohol bei Männern und 20 Gramm bei Frauen liegen und als körperlich schädlich gelten. Körkel betonte, dass sich so insbesondere jüngere und weniger abhängige Trinker früher zu einer Psychotherapie motivieren ließen.