„Wir müssen sprachfähig werden“
Die Corona-Pandemie stellt die Gesellschaft vor Herausforderungen, von denen wir heute nicht wissen, wie wir sie morgen bewältigen werden. Wie wirken sie sich auf die Arbeitsbereiche von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aus, welchen Beitrag kann der Berufsstand für den Umgang mit der Situation leisten? Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW), über die psychotherapeutische Versorgung während der Coronakrise, Kammeraktivitäten und Zukunftsaufgaben.
„Die Covid-19-Pandemie bringt die Systeme der Gesundheitsversorgung an den Rand ihres Leistungsvermögens. Sie legt das Land still und verursacht so erhebliche ökonomische Risiken. Und wir geraten in eine diffuse, aber erhebliche psychische Anspannung. Wir spüren alle, wir stehen vor Herausforderungen, für die wir keine Lösungsmöglichkeiten „griffbereit“ haben.
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten stehen im Praxisalltag vor großen Herausforderungen. Wir erleben beunruhigte und verängstigte Patientinnen und Patienten, die durch diese Situation über ihre psychischen Störungen hinaus zusätzlich belastet werden. Die Belastungen betreffen auch die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die sich zu Recht Sorgen um die eigene Gesundheit machen. In dieser außergewöhnlichen Situation nehmen wir mit Freude zur Kenntnis, dass die Kolleginnen und Kollegen mit den Herausforderungen kompetent umgehen und trotz Bedenken ihren Versorgungsauftrag erfüllen. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen in der ambulanten Versorgung, den Kliniken, der Jugendhilfe und sonstigen Institutionen dafür, dass sie ihrer Verantwortung den Patientinnen und Patienten gegenüber auch in dieser außergewöhnlichen Lage gerecht werden, unabhängig davon, an welcher Stelle sie im Gesundheitssystem tätig sind.
Im Alltag psychotherapeutischer Praxen erweist es sich derzeit als hilfreich, dass die Möglichkeiten zur Erbringung von Leistungen per Video und Telefonaten erweitert wurden. Die Nachfrage nach Psychotherapie ist weiterhin groß, der Fokus liegt nach wie vor auf persönlichen Kontakten. Die meisten Behandlungen werden mit einigen Maßnahmen zur Minimierung des Infektionsrisikos im Grunde unverändert fortgeführt. Die Möglichkeit, psychotherapeutische Behandlungen über Video durchzuführen, wird von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vermehrt genutzt. Das betrifft verstärkt die Kontaktaufnahme mit neuen Patientinnen und Patienten. Ich sehe darin ein starkes Signal für die Leistungsfähigkeit, Einsatzbereitschaft und Kreativität unserer Profession.
Um psychotherapeutische Angebote in der Coronakrise abzusichern, ist der Vorstand der PTK NRW in Kooperation mit der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und den Länderkammern sehr schnell an die Kostenträger herangetreten, um flexible Regelungen für die Tätigkeit von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in ambulanter Praxis zu vereinbaren. Es ist ausgesprochen erfreulich, dass die Krankenkassen und die Beihilfeträger an Lösungen für die Probleme in der ambulanten Versorgung sehr interessiert waren und wir so schnell praktikable Ergebnisse erzielen konnten. Die psychotherapeutische Versorgung kann, trotz einiger Hindernisse, in großem Umfang geleistet werden. Dies war unter anderem möglich, weil unsere Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner im Gesundheitsministerium NRW deutliches Interesse für unsere Anliegen zeigten. Ich bin für diese Unterstützung sehr dankbar. Natürlich werden weitere Fragen zu klären sein und müssen Lösungen gefunden werden. Aber wir sind und bleiben am Ball.
Die berufspolitische Arbeit wird fortgeführt. Mit der Coronavirus-Pandemie verbundene Aufgaben stehen zwar im Vordergrund. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle anderen Arbeitsbereiche ruhen. Viele Arbeitsgruppen und Gremien werden per Videokonferenz tagen und Themen wie Defizite in der psychotherapeutischen Versorgung werden weiter vorangetrieben.
Respekt und Dank zolle ich der Leistung unserer Geschäftsstelle. Fast über Nacht wurde alles, was möglich ist, ins Homeoffice verlagert und so auch den familiären Verpflichtungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Rechnung getragen. In der Geschäftsstelle ist eine Präsenzbesetzung organisiert. Eigentlich ist im Außenkontakt alles wie immer!
Aber es tauchen auch jetzt schon Fragen auf, die über die aktuellen Probleme hinausreichen: Welche besonderen psychischen Belastungen sind mit dieser Krise verbunden? Stellt sie uns vor neue – un-bekannte, „ungeübte“ – Herausforderungen? Ist mit einer Zunahme von psychischen Krisen und entsprechenden professionellen Hilfe- und Behandlungsangeboten zu rechnen? Müssen wir unser professionelles Repertoire erweitern, Neues anbieten? Was können wir aus unserer professionellen Perspektive raten? Welche Hilfen können wir über die unmittelbare psychotherapeutische Versorgung hinaus anbieten?
Damit meine ich nicht, dass wir „die Welt erklären“ sollten. Dafür gibt es derzeit genug „Expertinnen und Experten“. Aber wir können und sind meines Erachtens aufgefordert, uns zum Umgang mit psychischen Belastungen zu äußern und auf „einfache“ Fragen zu antworten: Worin bestehen eigentlich diese „neuen“ Belastungen? Wie geht man konstruktiv mit ihnen um? Was kann man für die eigene psychische Gesundheit tun, was sollte man besser lassen (und warum)? Vor welche neuen Aufgaben sind Eltern gestellt? Wie erleben Kinder und Jugendliche diese Situationen? Was kennzeichnet das „Neue“ an dieser Situation? Wenn die Krise uns etwas überdeutlich vor Augen führt, dann die Tatsache, dass unser Leben nicht fast ausschließlich nach den Kriterien der (wirtschaftlichen) Effizienz ausgerichtet sein muss bzw. kann.
Es wird deutlich, dass man die Menschen mit ihren basalen Bedürfnissen ernst nehmen muss. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass es erst das Verbot der zwischenmenschlichen Begegnung gebraucht hat, um uns aufzuzeigen, dass wir soziale Wesen sind, die ohne Kontakte, Begegnungen, Berührungen – ohne den Anderen – nicht lebensfähig sind.
Unter diesem Aspekt kann diese Krise „heilsam“ sein. „Unsere Profession kann hier Erklärungen anbieten, die die existenzielle Dimension der Krise nicht verleugnen, sondern sie letztlich auch zu einer persönlichen Herausforderung machen. Eine große Aufgabe hierbei wird es sein, die „neuen“ Probleme zu benennen, in Sprache zu fassen. Sprachfähig werden heißt handlungsfähig werden. Wir gehören zu den Berufsgruppen, die über die Kompetenz und die Konzepte verfügen, um hierzu einen Beitrag leisten zu können. So kann man an der Krise wachsen!“